Germanistik in der Schweiz

Online-Zeitschrift der SAGG, Heft 6/2009


Sprachbilder oder Bildsprache? Herta Müllers mediale Miniaturen

Urs Meyer (Fribourg)



'Kleine Texte' bergen manchmal Qualitäten, die sich erst einer mediengeschichtlichen Betrachtung erschließen. Sowohl das häufig gebrauchte Konzept der Intermedialität als auch der neuere Konkurrenzbegriff der Transmedialität können der Interpretation von 'Kleinen Texten' zusätzliche und wertvolle Impulse geben.

Die Mehrzahl der Beispiele für eine das Medium Buch überschreitende Literaturästhetik ist dabei beschreibbar unter Rückgriff auf das etablierte, aber in seiner Verwendung oft limitierte Konzept der Intermedialität. Es handelt sich bei den bekannten Formen der Intermedialität nicht selten um wenig spektakuläre Fälle einer Medienüberschreitung, bei der das Zielmedium den Rezeptionsprozess dominiert, während die Eigenarten des Ursprungsmediums soweit in die intermediale Kommunikation integriert werden, dass sie nicht mehr als eigenständige erkennbar sind. Für eine in diesem Sinn restringierte Intermedialität ist die Literaturverfilmung das Paradebeispiel. Ihre Betrachtung ist möglich ohne jede Kenntnis des Ursprungsmediums. Die Umwandlung des Buchtextes in eine filmische Darstellung erfolgt meist so, dass man noch immer vom Buch auf der einen Seite und vom Film auf der anderen Seite sprechen kann, vom "Film zum Buch" oder vom "Buch zum Film". Schon Bolter und Grusin stellten deshalb fest, dass Literaturverfilmungen zwar in der Regel "historically accurate" seien, dass sie aber dennoch "not contain any overt reference to the novels on which they are based; they certainly do not acknowledge that they are adaptations" (Bolter/Grusin 2000: 44).

Im Unterschied zu einer auf diese Weise restringierten Intermedialität ist das theoretische Konzept der Transmedialität so angelegt, dass es eine möglichst polymorphe Vielfalt künstlerischer Medienverwendung einzuschließen vermag (vgl. Meyer et al. 2006). Auch Herta Müllers Buch Die blassen Herren mit den Mokkatassen, von dem hier vornehmlich die Rede sein soll, lässt sich unter dem Aspekt seiner Medialiät als Kunstwerk betrachten, das neben den semantischen Grenzen (in seiner Sprachbildlichkeit) auch mediale Grenzen (in seiner Bildsprachlichkeit) niederreisst und dadurch zu einem transmedialen Kunstwerk wird.

Durch diese transmediale Erweiterung ihrer Miniaturtexte gelingt es Müller, mögliche Einschränkungen des literarischen Schreibens bereits auf der visuell-graphischen Ebene weitgehend zu ignorieren. Negiert werden parallel dazu aber auch auf der motivischen Ebene viele lebensweltliche Begrenzungen wie die Grenze des Körpers respektive der Nacktheit, die Grenze der Familie, die Grenze des Dorfes, die Landesgrenze und schließlich die Grenze des Lebens überhaupt, markiert durch den Tod.

Das erste bildsprachliche Sprachbild aus Die blassen Herren mit den Mokkatassen, das dieses Vorgehen illustrieren kann, kaschiert zunächst, auf welche Grenzüberschreitung Bild und Text abzielen. In seiner Bedeutung besonders markiert erscheint dem Leser, der vermutlich zuerst den Text liest, das metaphorische und neologistisch unverständliche Wort "Bleibquadrat" (Müller 2005: 9). Erst wenn der Blick auf das textbegleitende Bild schweift, erkennt der Betrachter ein schemenhaftes weißes in einem roten Rechteck. Ein Rechteck ist zwar kein Quadrat. Doch liegt die Annahme nahe, dass das gezeichnete rote Rechteck mit dem im Text erwähnten "Bleibquadrat" etwas zu tun hat. Das "Bleibquadrat" wäre dann der Pass, der über Gehen oder Bleiben entscheidet oder der Grenzbezirk, der nur mit Pass in der Hand zu überschreiten ist. Eine der beiden Figuren auf dem Bild vollzieht einen Drahtseilakt auf dem dünnen Rand eines Gebildes, das man als Mokkatasse identifizieren könnte, scheinbar um den Pass zu holen, und wohl auch im Versuch, nicht in die Kaffeetasse hineinzufallen.

Abb. 1 (Müller 2005: 9)

Die Grenzgänger und Grenzgängerinnen in Müllers Die blassen Herren mit den Mokkatassen sind manchmal als kleine, schattenhafte Figuren kaum erkennbar, oft sogar nur durch ihre Gepäckstücke repräsentiert. Das häufig wiederkehrende Wort "Koffer" (Müller 2005: z. B. 88, 94, 96, 100) findet sich dabei aufs Äußerste verdichtet in seiner Bedeutung. Die bloße Nennung dieser Vokabel scheint hier schon hinreichendes Fanal, hatte Müllers rumänischer Verlag das Zensurwesen doch einmal so weit ins Groteske getrieben, das vermeintlich bedrohliche Wort "Koffer" aus einem ihrer Texte zu streichen (Müller 2003: 31). In Die blassen Herren mit den Mokkatassen wird das Tabu- zum Reizwort verkehrt, das unterschwellig die Flucht aus einer unwirtlichen Umgebung chiffriert. Die Grenze, der Grenzgänger und der Koffer als Zeichen der Grenzüberschreitung verweisen dabei nur noch indirekt auf die von Herta Müller durchlebte Diktatur Ceausescus. Im autobiographischen Roman Herztier fand sich im Koffer noch jener Kleidergürtel, mit dem sich Lola, eine der Kommilitoninnen der Ich-Erzählerin, schließlich erhängt. Wie die Eisenbahn, das Boot, die Straße oder der Schleichweg ist der Koffer in Herta Müllers Werken Inbegriff der Flucht. In Die blassen Herren mit den Mokkatassen verlieren sich diese Konnotationen jedoch in einer umfassenden metaphorischen Bildlichkeit. Die Grenzüberschreitung wird vom realen Problem zur poetischen Schreibweise erhoben, die den Bruch mit möglichst mannigfaltigen Konventionen des literarischen Ausdrucks anstrebt. Unter diesen Konventionen vielleicht am substantiellsten ist jene der (literarischen) Gattungslehre, die sich vorab in der Abgrenzung zwischen lyrischen, dramatischen und prosaischen Schreibstilen manifestiert. "Und es gibt" schreibt Müller in Der König verneigt sich und tötet, "obwohl es so oft behauptet wird, zwischen Lyrik und Prosa diesbezüglich keinen Unterschied. Prosa hat die gleiche Dichte zu halten, auch wenn sie es, weil auf langer Strecke, anders bewerkstelligen muß." (2003: 20).

Jürgen Wertheimer spricht deshalb mit Blick auf Müllers Miniaturtexte von "Gedichtbildern" (Wertheimer 2002: 82), Herta Müller selbst von "Gedicht-Collagen" oder "Kürzestgeschichten" (Riccabona 2003: 178). Doch liegt die Vermutung nahe, dass überhaupt kein Begriff aus der vertrauten Welt der 'Kleinen Texte' den Textgebilden Müllers wirklich gerecht werden kann. Statt von "Gedichtbildern" könnte man genauso gut von "Prosagedichten" sprechen, fehlt Müllers Texten doch das wichtigste Kennzeichen eines lyrischen Gedichts, die Verssegmentierung. Aber auch einer in diesem Sinne eindeutigen Zuordnung widersetzen sich die Textgebilde Müllers, da sie auf der anderen Seite wieder mit Reimen durchzogen und lyrisch im strengen Sinn der Einzelrede sind. Am Ende hält sogar überhaupt nur der Reim in all seinen Formen die zerstückelten Sätze noch zusammen.

Während dem Reim auf diese Weise eine wichtige gliedernde Funktion zukommt, fehlen wiederum die Satzzeichen, als die konventionellen Grenzsteine zwischen Sätzen und Teilsätzen, gänzlich. Die Worte werden, obwohl die Autorin die Regeln der Syntax befolgt, aneinandergereiht, ohne optisch durch Satzzeichen voneinander abgetrennt zu sein. Die Leserin schießt beim Lesen der Worte entsprechend oft über das Ziel hinaus, sie liest über die nicht mehr markierten Satzgrenzen hinweg. In Der Teufel sitzt im Spiegel begründet Müller (1991: 71) die Absenz der Satzzeichen in ihren Texten wie folgt:

Sowohl das Fragezeichen als auch das Ausrufzeichen haben die Absicht hervorzuheben, Unterscheidungen zu treffen. Sind die Sätze gefunden, wie sie sich selber sehn, kommen diese Zeichen nicht vor.

Bei der poetischen Suche nach Sätzen, "wie sie sich selber sehen", stören Satzzeichen nur, sie müssen in der Sicht Müllers als unstatthafte Eingriffe in die Satzhoheit verstanden werden. Sie sollen deshalb bei jedem Neulesen durch die Leser kreativ anders gesetzt und variiert werden. Anders als bei Stefan George ist das Fehlen der Satzzeichen bei Müller nicht Ausdruck esoterisch-künstlerischer Abweichung vom Gewohnten, gerichtet an die Eingeweihten erhabener Sprachkunst, sondern Appell an den Leser, aus der Sicht Müllers wohl noch demokratischer: an die zufälligen Sätze selbst, im gegebenen Augenblick mit den befreiten Worten kreativ umzugehen. Dabei wirken die Sätze und Satzteile semantisch so zerrissen, dass jeder Satz für sich genommen seine Wirksamkeit zur Entfaltung bringen kann. Es sind 'Satzbilder' oder 'Minimalbilder' im Sinne von Müllers Diktum "Auch das Schreiben vollzieht sich in Bildern" (ebd.: 83).

Nicht nur Satzzeichen, auch Kapitelgrenzen, mehr noch: die Seitenzahlen, fehlen in Müllers Schein-Buch, jene Orientierungshilfen also, die dem Leser den Fortschritt seiner Lektüre anzeigen. Es ist ein Wort aus Walter Benjamins "Einbahnstraße" (1972: 118), das den Sinn dieser Maßnahmen deuten könnte:

Als Lebensuhr, auf der die Sekunden nur so dahineilen, hängt über den Romanfiguren die Seitenzahl. Welcher Leser hätte nicht schon einmal flüchtig, geängstigt zu ihr aufgeblickt?

Die Seitenzahl ist keine beliebige Zahl, sie zählt auch und nicht zuletzt die Zeit, insbesondere die Erzählzeit, und übernimmt damit die Funktion einer Uhr beim Lesen. Fehlt sie, verliert der Leser die Orientierung, befindet er sich in der Mitte des Buches, am Anfang oder am Ende?

Mittels intertextueller Selbstzitate verweist Müller in ihren verdichteten Collagen fortwährend auf eigene frühere Bücher. Die Abschottung eines Textes als Einzelwerk ist damit kaum noch sinnvoll. Ohne Rückbezug auf frühere Texte bleiben die Collagen schwer- bis unverständlich. In Die blassen Herren mit den Mokkatassen werden zum Beispiel immerwieder und scheinbar beiläufig Tiere erwähnt, die, sofern MüllersChiffrensprache über die Werkgrenze hinaus betrachtet wird, in WahrheitBedeutung tragen. Der "Fasan" (Müller 2005: 18, 24, 29, 35u. ö.) etwa, der sich durch die Collagen bewegt, verweist auf den Titelvon Herta Müllers Buch Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Dieser wiederum zitiert ein rumänisches Sprichwort. Der Mensch als flügellahmer Fasan, das bedeutet dort: der Mensch inseiner Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit. Eine Passage aus Müllers Essay Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt(1991: 35) sucht diese überbordende Intertextualität zu ergründen:

Denn alle Sätze sind ohnehin ein einziger Satz, sowie alle Texte ein einziger Satz sind, und alle Bücher. Ja, auch wenn man über Jahre hin verschiedene Bücher schreibt, schreibt man immer an einem einzigen Satz.

Die konkrete Materialität der Schrift und die Sichtbarmachung der Schriftgrenzen (die in Müllers Wort-Collagen als Schnittstellen im eigentlichen Wortsinne zu bezeichnen wären), sind den dadaistischen Collagen eines Tristan Tzara oder Kurt Schwitters dennoch nur teilweise ähnlich. Während diese stärker in die Richtung einer Unsinnspoesie tendieren, bergen jene oft ein tiefgründiges semantisches Potential, das nach einer ‚Entschlüsselung’ durch den Leser drängt. Ähnlich wie der Bezug zur dadaistischen Collage scheint auch der Bezug auf das kriminelle Alltags-Medium des Erpresserbriefs eher oberflächlicher Natur. Müller verknüpft ihre Wortschnipsel zwar mit zusätzlichen visuellen (meist Rand‑)Elementen, für sich genommen sind die einzelnen Schnipsel aber ordentlich zu Textzeilen gefügt. Genau diese Regelmäßigkeit ähnelt jener der säuberlich aneinander gereihten Erpresserzeilen, die plakativ, gut lesbar und möglichst leicht verständlich auf das weiße Blatt Papier geklebt sind. Es ist aber nicht die leichte Verständlichkeit, sondern nur das mediale Verfahren, das Müller vom Erpresserbrief übernimmt. In Analogie zum Erpresser nämlich, der sich dieser Form bedient, um sich zu anonymisieren, entzieht sich auch Müllers Ich-Erzählerin dem Zugriff der Leser. Als massenmediale Abfallprodukte entfernen sich die Worte von ihrer individuellen Schöpferin und müssen nun, ganz wie es Müllers Poetik vorsieht, für sich selbst sprechen. Auch im Erpresserbrief finden wir dabei für gewöhnlich Worte mit hoher eigener Signalkraft: "20'000 Euro oder ihr Mann ist tot!" Der Erpresserbrief ist wie Müllers Wortcollagen augenfällig. Jedes Wort bekommt optisch den Nachdruck, den es verdient. Anders beim Erpresserbrief oder auch beim Kommunikations-Medium studentischer Wohngemeinschaften, den Kühlschrankpoesie-Magneten, bei denen die Wortgrenzen vorgegeben sind, braucht sich Müller in ihren neodadaistischen Collagen noch nicht einmal an die Grenzen der Morpheme zu halten. Sie rekombiniert ihre Wörter vielmehr gezielt gerade aus besonders beliebig wirkenden Einzelbuchstaben, Buchstabenfolgen und Wortfragmenten, was ein prinzipiell unbeschränktes Anwendungsfeld für neologische Wortbildungen eröffnet – vom "Antilopenschuh" (Müller 2005: 34) über den "Lachwind" (ebd.: 33) bis hin zum "Schleichengel", der sich aus "Sch", "leichen" und "gel" sonderbar zusammensetzt (ebd.: 37).

Auch eine weitere Einschränkung der Schrift im Buch nimmt Müller nicht in Kauf: Ihre Farblosigkeit. Literarisches Schreiben besonders im Massenprintmedium Buch, das bedeutet Schreiben mit schwarzen Lettern auf weißem Papier. Die Vorherrschaft des Schwarzweißdrucks basiert auf einer pragmatische Wahl: schwarz kontrastiert mit weiß am lesbarsten. In Zeitschriften, besonders im Magazin "Der Spiegel", und in den Werbeinseraten, denen Müller ihre objets trouvés entnimmt, sieht Schrift anders aus: farbig oder farbig unterlegt.

Dabei eröffnet sich sogar ein weiterer hypermedialer Bezug zur Mail-Art, die als oftmals gerade durch Postzensur provozierte Kunstbewegung auch in diktatorischen Staaten Bedeutung erlangt hat. Die Kunstform der Mail-Art imitiert dazu unter anderem auch die Schriftgrafik von Zeitschriften. Die kanadische Gruppierung General Idea zum Beispiel ahmte mit ihrer Zeitschrift FILE die Typographie der Zeitschrift LIFE nach, gefolgt von den "Bay Area Dadaists" um Anna Banana und Bill Gaglione aus San Francisco, deren Zeitschrift VILE ihrerseits auf FILE und LIFE anspielte. Die Mail-Art diente wie der Kassiber besonders in den Diktaturen Osteuropas der codierten Verständigung über die Möglichkeiten des politischen Widerstands, in Jugoslawien, in der DDR, in Polen oder eben auch in Rumänien. Auch dieser Mail-Art-Untergrundbewegung der 1980er kommt mit Blick auf Müllers Postkarten-Texte wohl eine gewisse Vorreiter-Rolle zu (Groh 1972; Kallinich et al. 1999). In Die blassen Herren mit den Mokkatassen erscheinen die einzelnen Bild-Text-Miniaturen durch die fehlende Paginierung und die blass-beigen Umrandungen ebenfalls wie Post- oder Ansichtskarten. Solche präsentierte die Autorin schon frührer unter dem Titel Der Wächter nimmt seinen Kamm: vom Weggehen und Ausscheren 1993 ganz explizit als lose Blätter in einer Kassette. Das Kartenformat mit Rand markiert für die Autorin dabei auch eine Grenze des Sprachverständnisses und der sprachlichen Transparenz überhaupt: "Es sind nur Viertel- und Halbseiten zu durchschauen, und auch diese jedes Mal, wenn ich es versuche, anders", bemerkt Müller (1999: 12) in ihrem Essay Der fremde Blick.

Gleichwohl sucht der Leser in den Farbtupfern vergeblich nach eindeutiger Sinngebung. Die willkürliche Streuung der Farben verweigert sich vielmehr gerade jener möglichen Semantik, wie sie Farben oft zugesprochen wird. In Reisende auf einem Bein konstatiert Müller (1989: 154) lakonisch:

Als ich klein war, sagte die andere Irene mit ihrer tiefen Stimme, hab ich immer gehört, daß die Liebe rot ist, die Treue blau und die Eifersucht gelb. Damals hab ich die Welt verstanden.

Diese Sätze implizieren, dass der Welt (der Farben), wenn sie durch die Augen der weniger Naiven betrachtet wird, ihre Verständlichkeit abhanden kommt. Deshalb folgt auch die Verteilung der Farben auf Müllers Text-Teppiche einem scheinbar nur noch abstrakten Muster, einer allgemeinen Farbenfröhlichkeit vielleicht, die den dominierenden Trüb- und Tiefsinn der Texte überschminkt. Eine geradezu linguistische 'Farbenlehre' andeutend, äußerte sich Herta Müller (1997) einmal in einem Interview auf diese Weise: "Die Sprache ist für mich eine geruch-, geschmack- und farblose Sache". Ihre Collagen geben demnach der 'farblosen' Sprache ihre Farbe und damit ihre verlorene Sinnlichkeit zurück. Die Farbmuster in Müllers Collagen bilden eine sinnlich-poetische Oberflächenstruktur, die entfernt noch an die Farbenpracht der Zeitschriften erinnert, denen die Wortschnipsel entnommen sind. Ähnlich wie beim medialen Unding einer "holzpostkarte" (Beuys 1974), das der neben Marcel Duchamps wichtigste Urvater künstlerischer Transmedialität, Joseph Beuys, kreierte, tritt in Müllers Buchkarten die Materialität der Textproduktion auch jenseits der Farbgebung vielschichtig hervor. Häufig ist etwa die Rede von stofflichen Rasterungen und Musterungen, die dem Text – über die Farbmuster hinaus – geradezu ironisch äußere Form und Materialität verleihen: das "Millimeterpapier", (Müller 1999: 13), der "Lineal" (Müller 2005: 88), der "Zebrastreif" (ebd.: 88), das "Rippenmuster einer Jacke" (ebd.: 7), die "graukarierte Hündin" (ebd.: 102) neben dem "großkarierten Schal" (ebd.: 39), der "Pepitasamt" (ebd.: 27) und das "Pepita" (ebd.: 30), die Lippen, die "blau gerippt" sind (ebd.: 31), das "Geripp" selbst (ebd.: 72) oder die "Blutflecken" (ebd.: 76). In ihrer Musterung "kariert" sind nicht nur Schal, sondern auch Koffer (ebd.: 15) oder Tische (ebd.: 47).

Abb. 2 (Müller 2005: 27)

Die auf bildstruktureller und semantischer Ebene erkennbaren Farb- und Stoffmuster korrespondieren dabei eng mit dem schon erwähnten engmaschigen Netz der Reime. Auch diese Reime wirken zunächst nur oberflächlich verknüpft. Sie tragen wenig zum Verständnis der Wortspiele bei. Der Leser fällt durch die ihm Sicherheit vortäuschenden Farb- und Reim-Netze vielmehr direkt in den bodenlosen Abgrund der Interpretationsfreiheit und Interpretationsnot. So könnte eine Lieblingshassfigur Herta Müllers, die Schachfigur des Königs, die immer wieder auftaucht, als poetische Chiffre für den realen Diktator stehen, vielleicht sogar eine intertextuelle Beziehung zur diktaturkritischen "Schachnovelle" Stefan Zweigs nahe legen. Sie kann aber auch eine ganz andere Bedeutung respektive Funktion haben.

Abb. 3 (Müller 2005: 47)

Ähnlich oberflächlich wie die Musterung von Farben und Reimen wirkt auch die Angabe von Zahlen in Müllers Texten. Immer wieder treffen wir – wie in den Filmen von Michael Nyman ("Drowning by Numbers" 1988 u. a.) – auf scheinbar absurde Zählungen, mittels derer die üppigen Sprachbilder in mathematische Formelhaftigkeit überführt werden. Die nicht mehr geglaubte Erzählbarkeit der Welt weicht sinnlosen Zählungen, sinnlosen Messungen, die dem Leser am Ende nur ihrerseits zeigen, dass er auf nichts wirklich zählen kann: Es wird ein Orden poliert mit "20 GRAMM durchwachsnem Speck" (Müller 2005: 86), im Schrank wohnt "dreimal der Mond" (ebd.: 92), es gibt "siebenerlei Staub" (ebd.: 18), der Speichelfaden ist "dreißig cm" (ebd.: 39) lang, eine Hündin verirrt sich "147 Kilometer" (ebd.: 102) oder ein Echo "wiegt beim Anfassen an die zwanzig Kilo" (ebd.: 12).

Auch die Bilder, die Müller ihren Texten zu Seite stellt, sind in ihrer Bezüglichkeit vielfach gestört. Manche Bilder sind nur Widerschein der Worte, sie lassen den Übergang vom Text zum Bild als grenzenlos erscheinen. Manche Bilder hingegen sind Gegenpart der Worte. Kaum je haben die Bilder, wie Jürgen Wertheimer behauptet, "anti-illustrativen" Charakter (Wertheimer 2002: 82). Es sind zwar Bilder-Rätsel, für geübte Leser der Werke Herta Müllers sind sie aber wenigstens teilweise auch zu enträtseln. Die Bilder sind zum Beispiel oft so gemalt und collagiert, dass sie im Doppelsinne des Wortes die "verrückten" Dimensionen der dargestellten Menschen und Dinge, ihre Missproportionalität, in den Vordergrund rücken (Müller 2005: 10, 14, 25, 32, 59, 75 u. ö.). Ob groß- oder kleinformatig, vorder- oder hintergründig, vergrößert oder verkleinert: die Größen- und Perspektivenverhältnisse der Bilder wirken verzerrt und unrealistisch. Zusätzlich verstärkt wird diese visuelle Verzerrung durch sprachliche Größenmessungen wie die eines "fingernagelkleinen Zollbeamten" (ebd.: 64). Müller führt dazu in Der Teufel sitzt im Spiegel die folgende kurze Geschichte an:

Ein Freund hat einmal, als wir zusammensaßen, aus dem Photo des Diktators ein Auge ausgeschnitten. Er hat das Auge auf einen Bogen Packpapier geklebt. Er hat unter das Auge geschrieben: "Das Auge des Diktators." Wir haben gelacht, schallend gelacht, weil uns das Auge jetzt noch mehr bedrohte. (Müller 1991: 27)

Dargestellt finden sich in den Bildcollagen nicht selten nur Fragmente von Menschen, Tieren und Gegenständen. Die Menschen sind meist sehr klein, kaum kenntlich als Figürchen, Silhouetten oder Schatten freischwebend auf dem Bild platziert – oder aber überdimensioniert in der Art von Fratzen. In Bezug auf das menschliche Gesicht herrscht dabei offenbar Bilderverbot. Wo man ein Gesicht sieht, wirkt es zerschnitten wie die kubischen Gesichtsbilder Picassos. Eine natürliche Begrenzung oder Scheren-Schnittstelle des Gesichts und der Haut bilden meist nur die Kleidungsstücke, unter denen die Mütze eine besondere Rolle zu spielen scheint. Aber auch die Haare sind in Müllers Ontologie des menschlichen Körpers in Abgrenzung zur ihn umgebenden Welt die ersten Objekte jenseits der Haut und damit zufällige Gegenstände wie andere. So heißt es einmal: "der Mann von nebenan riss ihr ein Büschel Haare aus und ging damit zur Post" (Müller 2005: 106).

Die einzelnen Worte sind aus ihrem Kontext gerissen, von den Wortgrenzen befreit und neu kombiniert. Das gilt nicht nur für kühne Metaphern wie "Bleibquadrat" (ebd.: 9), "Seifenblasenkropf" (ebd.: 13) oder "Hutschachtelgebirge" (ebd.: 35). Auch Worte wie "Spiegel", "König", "Frosch", "Kartoffel" oder "Petersilie" sind in Müllers Texten meist ko-textfreie Chiffren, die bestenfalls in ihren poetologischen und essayistischen Texten teilweise oder ganz aufgelöst werden. Der Hund etwa, der in Bild- und Textform in Müllers Collagen sehr häufig vorkommt, ist – folgt man Müllers eigener Dechiffrierung – nichts weniger Gefährlicheres als die fast existentielle "Angst zu beißen und die Angst gebissen zu werden" (Müller 1991: 27). Die "Krähen in den Pappeln" markieren – wiederum gemäß Müllers eigener Deutung – das Irresein im Kopf. Einer von Herta Müllers Lieblingsdichtern, Paul Celan, steht für die von Müller praktizierte poetische Kunst der vieldeutigen Chiffre am deutlichsten Pate, aber auch Georg Trakls Gedichte und Ilse Aichingers Chiffrenkunst lassen den literarhistorischen Vergleich zu. Besonders eigentümlich ist der Chiffrenkunst Müllers im Unterschied zu den genannten Vorbildern ihre ‚ferne Nähe’ zur dadaistischen Unsinnspoesie. Da laut Müller jeder Text ein "Anliegen" (ebd.: 42) haben muss, kann es sich bei der hier beschriebenen dadaistischen Rekombinatorik von Worten und Wortgrenzen auch nicht um apolitische Unsinnstaten handeln. Der Humor, der in Müllers Wortspielen sichtbar wird, ist spielt vielmehr an an den sonderbaren Humor, der in einer Diktatur wie der rumänischen vorherrscht. Die Autorin beschreibt diesen Humor als schlagfertig und lückenlos, aber auch als entwürdigend und schäbig (Müller 2003: 33). In ihre Collagen geleimt, wirkt er wie der Humor der Dadaisten grotesk, absurd, aber die Gutmütigen entwaffnend. Ein Beispiel dafür ist der folgende Satz: "unlängst habe ICH gehört / dass manche Leute längst bei / ANDERN wohnen als ATEM / Fliegen oder Kaffebohnen" (ebd.: 29). Wenn Menschen zu Kaffeebohnen werden, und so weiterwohnen, so ist das zunächst nur ein komischer Einfall. Doch bleibt beim späteren Genuss dieser reinkarnierten Kaffeebohnen vermutlich ein ähnlicher Nachgeschmack, wie beim Betrachten des Bildes von Wilhelm Busch, das Max und Moritz nach dem Gang durch die Mühle als kleine Schrotkörner zeigt, bereit zur Verzehrung durch Meister Müllers Federvieh.

Abb. 4 (Müller 2005: 29)

Dadaistische Text- und Bildcollage, Konkrete Poesie, illustrierte Boulevard-Zeitung, Erpresserbrief, Postkarte, Bildrätsel, Mail Art, Kühlschrankpoesie: indem Herta Müller all diese Gattungstraditionen im 'falschen' Medium des Buches vereint, entwickelt sie beinahe 'unter der Hand' ihre innovative transmediale und intertextuelle Sprach- und Bildkunst. Die vielen Vokabeln, die in ihrem Werk sprachliche und kulturelle Abgrenzungen markieren ("Grenze" (ebd.: 91), "Tagrand" (ebd.: 9), "Bleibquadrat" (ebd.), "Stadtrand" (ebd.: 87), "Sommerrand" (ebd.: 15), "Sackbahnhof" (ebd.: 97), "Bahnschranken" (ebd.: 13)), ebenso wie die Vielzahl der Bildfragmente von Grenzen (Tassenrand, Bergkuppe, Weg, Zaun oder Bahnlinie) werden im transmedialen Kunstwerk letztlich relativiert und aufgehoben. Die Thematisierung der Grenze im Einzelwort und Einzelsatz ist somit nur als Kehrseite der formalen, medialen und semantischen Grenzüberschreitung zu verstehen. Eine transmediale Grenzüberschreitung, wie sie in den Miniatur-Texten von Herta Müller zu beobachten ist, negiert vielleicht noch immer, und darin ist sie zumindest indirekt auch eminent politisch, die Grenzen und Begrenztheiten, mit denen sich ihr Schreiben auch noch jenseits und lange nach der Zensur konfrontiert sieht.


Literatur

Benjamin, Walter (1972): "Einbahnstraße". In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. IV/1. Hg. von Tillmann Rexroth. Frankfurt a. M.

Beuys, Joseph (1974): Holzpostkarte, Siebdruck auf Fichtenholz, Format: 10,5 x 15 x 3,3 cm, Auflage: unlimitiert, ca. 600 signiert, zum Teil gestempelt, Heidelberg: Edition Staeck.

Bolter, Jay David/Grusin, Richard (2000): Remediation. Understanding new media. Cambridge.

Groh, Klaus (1972): Aktuelle Kunst in Osteuropa – Jugoslawien, Polen, Rumänien, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Ungarn. Köln.

Kallinich, Joachim/Lemmrich, Veit (eds.) (1999): Mail Art. Sinnbilder des 21. Jahrhunderts. Projekt aus Anlass der Ausstellung "Mail Art – Keine Kunst?". Museumsstiftung Post- und Telekommunikation.

Meyer, Urs/Simanowski, Roberto/Zeller Christoph (eds.) (2006): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen.

Müller, Herta (1989): Reisende auf einem Bein. Berlin.

Müller, Herta (1999): Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne. Göttingen.

Müller, Herta (1991): Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Berlin.

Müller, Herta (2003): Der König verneigt sich und tötet. München: Hanser.

Müller, Herta (2005): Die blassen Herren mit den Mokkatassen. München/Wien.

Müller, Wolfgang (1997): "'poesie ist ja nichts angenehmes'. gespräch mit herta müller." Glossen 1. www.dickinson.edu/glossen/heft1/hertainterview.html (Stand: 18. Oktober 2009).

Riccabona, Christine (2003): "'... Die Schere ist unheimlich klug ...'. Herta Müller zu Gast im Literaturhaus am Inn". Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 22.

Wertheimer, Jürgen (2002): "Im Papierhaus wohnt die Stellungnahme. Zu Herta Müllers Text-Bild-Collagen". Text + Kritik 155: 80–84.


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