Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG 4/2007


Literaturwissenschaftliche Bildkritik

Skizze eines Forschungsprogramms: NFS Bildkritik, Basel
(November 2006) [*]

Ralf Simon (Basel)



1 Einige Grundgedanken

Bilder sind zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit flüssige Kommunikationsmedien. Mit ihrer neuen digitalen Materialität verlieren sie eine Definitionsmatrix, die ihnen wie naturwüchsig von jeher zukam: die stillgestellte Abbildung des Nebeneinanders von Körpern zu sein (vgl. den Laokoon-Diskurs). In unserer digitalen Gegenwart werden sie zu visuellen Effekten einer fluiden Basis, die in der schnellen Taktung der 0/1-Unterscheidung besteht. Es ist also der digital turn, der als technisch-materielle Voraussetzung eine andere kulturelle Realität, die neue Schnelligkeit der Bilder, erst ermöglicht. Man kann konstatieren, dass die Macht der digitalen Speicherumfänge eine neue Qualität der Präsenz der Bilder erzeugt.

Die Effekte der Digitalisierung fächern sich in viele Felder und die sie beschreibenden Theorietätigkeiten auf. Datenpools stellen Machtdispositive dar. Eine Theorie der digitalen Macht und ihrer Überwachungsapparate ist also eine die digitale Revolution begleitende Diskursnotwendigkeit. [1]

In die Reihe der Effekte der Digitalisierung gehört auch die Fluidität der Bilder und als ihre diskursive Spiegelung ein weiterer turn: der iconic turn. [2] So wie fast alle Folgen der Digitalisierung nach diskursiven Reaktionen verlangen, in deren Zentrum die Frage der Macht steht, drängt auch der iconic turn auf die Machtfrage. Worin besteht die Macht der Bilder? Diese Frage ist nur an der Oberfläche eine, die sich soziologisch oder gar gesellschaftspolitisch anhört. Denn um die Macht der Bilder verstehen zu können, ist eine spezifische Differenzanalyse notwendig. Bilder werden in der Regel so verstanden, dass man ihre Bedeutung und ihre Funktion analysiert. Man kann in diesem Sinne Bildelemente kodieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die antike Mythologie und die mit ihr einhergehende ikonologische Tradition, nach der wir anhand von mythographischen Attributen in der Lage sind, auf Gemälden mythologisches Personal erkennen und ihnen die Bedeutungen und Geschichten zuschreiben zu können, die von ihnen in den Mythen erzählt werden. Aber wenn eine solche Analyse der Funktion und der Bedeutung geleistet ist, bleibt dennoch ein untilgbares Moment von Konkretheit, von performativer Präsenz der Bildrealisation, welche nicht in dem bloßen Akt der Bedeutungsfixierung aufgeht. Wenn es also richtig ist, dass die Macht der Bilder über die funktionale Analyse der Bedeutung hinausgeht, dann führt die Frage nach der Macht auf die zu Grunde liegende Frage nach dem, was ein Bild überhaupt ist und worin seine Struktur besteht.

Diese überraschende, ja seltsame Wendung steht in einem pointierten Gegensatz zu den uns bekannten Varianten von Medientheorie und Machttheorie. Medienwissenschaften können ihre Apparate beschreiben, sie können sogar die technische Bauanleitung geben und von der basalen 0/1-Unterscheidung bis hin zum Bild auf dem Computerbildschirm ein komplettes und lückenloses Kontinuum der Erklärung etablieren. Neben dieser technoiden Rekonstruierbarkeit lässt sich ebenso eine kulturelle Lektüre der erscheinenden Bilder als Medieneffekte in Anschlag bringen – eine Lektüre, die ihr analytisches Instrumentarium an der Semiotik und an der Begriffsarbeit der philosophischen Tradition geschärft hat. Im Gegensatz zu solchen wissenschaftlichen Rekonstruktionsversuchen ist aber die Frage nach der Wirkung und der Macht der Bilder von einer grundsätzlich anderen Struktur. Um es pointiert zu formulieren: für die Bildtheorie ist die Frage, wie das Bild auf den Computerbildschirm gelangt, ebenso nur eine sekundäre und beiherspielende Problemstellung wie die Frage, was so ein Bild jeweils bedeuten mag. Im Zentrum der Bildtheorie, die zwar aus diesen Wissenschaften und Analysen ihren Profit zieht, steht dennoch eine ganz andere Frage, und sie ist ungleich komplexer und schwieriger. Gibt es an den Phänomenen der Bildlichkeit ein irreduzibles und ursprüngliches Moment, das weder durch einen Einblick in die technische Genese noch durch eine Bedeutungsanalyse erschlossen werden kann? Steckt in der ikonischen Präsenz und ihrer durch Gestalt und Farbe konkretisierten Manifestation ein eigener Logos, der mit der Logik der sprachlichen und zeichentheoretischen Formen nicht begriffen werden kann? Und wenn dem so wäre: Ist dann nicht die permanente Präsenz der Bilder infolge der digitalen Revolution ein noch eigentlich vollkommen unverstandenes Phänomen? Man mag die gesellschaftlichen Funktionen von Bildern verstehen und man mag die medientheoretische Analyse der Apparate sowohl technoid als auch kulturwissenschaftlich vorantreiben, aber bei diesen so notwendigen und auch erfolgreichen Zugängen bleibt doch stets dasjenige auf der Strecke, was die eigentliche Wirkmacht der Bilder ist.

Es ist also eine seltsame und unvermutete gedankliche Figur zu konstatieren. Die zunächst nach traditioneller Gesellschaftstheorie oder auch nach rhetorischer Analyse aussehende Frage nach der Wirkung und der Macht der Bilder entpuppt sich als eine solche, die man zunächst behelfsweise ontologisch nennen kann. An die Stelle einer Funktionsanalyse rückt eine Frage nach dem Wesen oder der inneren Natur des Bildes. Kantianer würden die Frage Was ist ein Bild? als vorkritische ad acta legen. Aber gerade weil die Präsenz des Bildlichen nicht auf Funktionsanalyse, Bedeutungsanalyse und Technikanalyse zurückführbar ist, und weil das, was avancierte Kulturwissenschaft zu lesen versteht, nicht den eigenen Logos des Bildes tangieren kann, fällt die Frage nach der Wirkung und der Macht der Bilder auf die Frage nach dem, was sie sind, zurück. Diese irritierende Wendung vom Funktionalen ins Substantielle, von der Bedeutungsanalyse in den Präsenzcharakter der ikonischen Performanz beschreibt die spezifische Differenz der neu sich formierenden Bildwissenschaften zu den etablierten wissenschaftlichen Verfahrensweisen.

Es scheint so, als ob eine neue Wissenschaft erfunden werden müsste. Der NFS Bildkritik ist der Versuch, diese in jeder Hinsicht anspruchsvolle Aufgabe anzugehen.

Lassen Sie mich das bislang Gesagte an einem Beispiel illustrieren. Eine Handy-Firma bewirbt ihr Produkt, mit dem man nicht nur telephonieren, sondern auch photographieren bzw. filmen kann, mit einem Bild, das eine junge Frau mit einem Handy in Venedig zeigt – aber so, dass man auf dem Display des Handys genau diejenige Szene erkennen kann, die die Szene des gesamten Werbefotos ist. Diese mise-en-abyme-Setzung des Bildes im Bild hat eine klare Botschaft. Vor langen Zeiten hat man aus dem Venedigurlaub den Daheimgebliebenen eine Postkarte geschickt, auf der Venedig abgebildet gewesen ist. Vor nicht allzu langer Zeit hat man sich der Mühe des Schreibens nicht mehr unterzogen, weil man das eigene Telefon in Form eines Handys dabei hatte und gleich direkt sprechen konnte. Heute aber spricht man gar nicht mehr, man photographiert die Szene so, dass man auf dem Bild mit der Ansicht Venedigs gleich selbst mit dabei ist und sendet das Bild an den Empfänger. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Das gegenwärtige Handy schaltet in dieser Bildfunktion die Sprache überhaupt aus und benutzt die erweiterten Möglichkeiten des Datenkanals zur Übermittlung quasi authentischer, Zeugenschaft bekundender Bilder.

Es ist klar, dass diese Werbung gerade Literaturwissenschaftlern jene spezifische Angst einjagt, welche man als die Angst vor dem Untergang des Abendlandes bezeichnen kann. Aber anstelle eines Lamentos über die schwindende Sprache hat sich der NFS Bildkritik entschlossen, nicht zu schweigen, auch nicht die Sprache gegen das Bild zu setzen, sondern die Sprache der wissenschaftlichen Analyse dem Bild selbst zuzuwenden. Wollte man dieses Bild analysieren, so ist sofort deutlich, dass die Analyse der Botschaft – so, wie ich sie ansatzweise gegeben habe – längst nicht ausreicht. Die Information, dass man mit Handys Urlaubsphotos quasi in Echtzeit versenden kann, lässt sich auch als Werbetext plausibel machen. In dem Werbeplakat gibt es aber einen spezifischen Mehrwert des Bildes gegenüber der formulierbaren Produktbeschreibung. Das Bild, in seiner komplexen internen Schachtelung, kennt eine innere Reflexion seiner selbst, durch die es sich als Argument exponiert und ausstellt, ohne argumentieren zu müssen. Es überzeugt, ohne begründen zu müssen. Es gibt eine Handlungsanweisung, ohne Verfahrensregeln zu formulieren. Vor allem aber: Es macht das Versprechen auf die direkte Mitteilung der nur performativ existierenden Präsenz. Dieses Versprechen ist von einer tiefen inneren Paradoxie geprägt. Performative Präsenz ist per definitionem nicht duplizierbar, sie ist an den Ereignischarakter gebunden. Ein Bild ist jedoch ein Präsenzphänomen: das Vorhandensein dessen, was sich als Bild vorstellig macht in genau dem Akt, der die Bildvorstellung realisiert. Und diese artifizielle Präsenz[3] ist eben doch duplizierbar, weil das Bild das Ereignis stillstellt, als Konstellation einfriert, ohne dabei die Performanz zu vernichten. Man sieht direkt, dass diese hoch problematische Bestimmung – eingefrorene/ stillgestellte Performanz – innerhalb der begrifflichen Ordnungen eine Paradoxie darstellt. Diese Paradoxie lässt die Schwierigkeiten ahnen, die sich dem Projekt einer Bildwissenschaft oder auch nur einer Bildkritik stellen.

Der NFS Bildkritik reagiert also vorderhand auf das aufgrund technischer Dispositive möglich gewordene Ereignis, dass Bilder zu flüssigen Kommunikationsmedien werden, aber er reagiert auf eine Weise, die diesseits der Beschreibung dieser Techologien in der Frage nach der Bildlichkeit eine Ebene erreicht, die man als tiefe Theorie bezeichnen kann. Denn offenkundig stellt die begriffliche Arbeit am Phänomen des Bildes eine abendländisch-philosophische Nomenklatur in das Zeichen der Paradoxierung.

Aus diesen Gründen kann eine Bildwissenschaft nicht auf der Basis von Medienwissenschaft gedacht werden: die Macht der Bilder ist eine autonome Sphäre gegenüber der digitalen Erzeugungsinstanz.

Und ebenso ist eine klare Unterscheidung zu semiotischen Ansätzen zu konstatieren. Eine Bildwissenschaft in Analogie zur Schriftwissenschaft beziehungsweise in Ausweitung linguistischer Nomenklaturen zu entwerfen, verfehlt das Bild aus prinzipiellen Gründen. Sprache (zumindest alphabetische Sprachsysteme) ist segmentierbar und die Segmente sind in Funktionsbegrifflichkeiten kodierbar. Solche diskursive Ordnungen programmierbarer Theoretisierung fallen für die Bilder weg. Die Gestalt eines Kreises, die Figurationen, die ein Landschaftsbild mit aufbauen, auch die Farbe: diese Konstituentien des Bildes sind vielleicht gestalttheoretisch, nicht aber im Paradigma der Linguistik oder Semiotik darstellbar.

Auch eine psychologische Verfahrensweise schiebt die Frage nach dem, was ein Bild sei, zugunsten anderer Erkenntnisinteressen auf. Die emotionale oder die kognitive Funktion von Bildvorstellungen im psychischen Apparat fragt abermals nach der Funktion und nach der Bedeutung, nicht aber nach dem Bild.

Unterscheidungswissen muss man immer aufnehmen und weiterverarbeiten. Insofern kann keine sich entwickelnde Bildwissenschaft auf die Medientheorien, die Semiotik, die Psychologie oder andere Wissenschaften verzichten. Aber es leuchtet sofort ein, dass die Frage nach dem, was ein Bild sei, einen eigenen und erst noch zu entwickelnden Ansatz fordert.


2 Organisationsformen des NFS Bildkritik (www.eikones.ch)

Der NFS Bildkritik organisiert seine wissenschaftliche Arbeit in sechs Modulen und in einem Graduiertenkolleg. Das interdisziplinär angelegte Graduiertenkolleg hat 13 Stipendiaten und wird von dem Philosophen Prof. Dr. Ludger Schwarte geleitet. Der thematische Schwerpunkt lautet: Bild und Wissen. Die Stipendiaten kommen zu gemeinsamen Kolloquien zusammen, veranstalten Workshops und Vortragsreihen sowie Tagungen.

In den Modulen arbeiten Angestellte an Doktorarbeiten und Habilitationsschriften. Das erste Modul, betreut vom Direktor des NFS Bildkritik, Prof. Dr. Gottfried Boehm, versteht sich als Werkstatt; entsprechend offen ist hier die thematische Definition angelegt: Die Macht der Bilder – Bildpolitik. Das zweite Modul wird betreut von dem Kunst- und Architekturhistoriker Prof. Dr. Andreas Beyer und trägt den Titel Bild, Architektur und Wort. Hier geht es um den Versuch, den architektonischen Prozess als Bildprozess zu verstehen. Das dritte Modul wird von Prof. Dr. Gabriele Brandstetter und wiederum von Prof. Dr. Gottfried Boehm geleitet und trägt den Titel Zeit und Bild (Lebendigkeit und Temporalität). Gegen die aus der Tradition des Lessingschen Laokoon resultierende Definition des Bildes als eines stillgestellten Nebeneinanders von abgebildeten Gegenständen versucht dieses Modul den Zeitcharakter des Bildes zu verstehen. Das vierte Modul, geleitet von dem €gyptologen Prof. Dr. Antonio Loprieno beschäftigt sich mit ideographischen Schriftsystemen, also mit der Bildlichkeit der Schrift auf der Ebene ihrer Materialität; es trägt den Titel Das Bild der Schrift. Das fünfte Modul ist das literaturwissenschaftliche, ich werde später ausführlicher davon reden. Das größte Modul ist das sechste, es wird geleitet von dem Zürcher Wissenschaftshistoriker Prof. Dr. Michael Hagner, und es beschäftigt sich mit Dem epistemischen Bild, also mit der zunehmend wichtiger werdenden Rolle der Visualisierung innerhalb der Naturwissenschaften. – Aus dieser kurzen Skizze ist zu ersehen, dass der NFS Bildkritik in der Tat interdisziplinär angelegt ist. Neben traditionellen Geisteswissenschaften wie Kunstwissenschaft, Altertumswissenschaften, Literaturwissenschaft, Philosophie finden sich Wissenschaftshistoriker, aber auch Naturwissenschaftler (z.B.: computergesteuerte Gesichtserkennung) und Bildpraktiker (Visuelle Gestaltung/ Design: Prof. Dr. Michael Renner).

Das Graduiertenkolleg und die Module sind jeweils so angelegt, dass zwischen den Fragestellungen der Module Querverbindungen existieren. So sind Literaturwissenschaftler zum Beispiel nicht nur im fünften Modul angestellt, sondern auch im ersten und im vierten, sowie im Graduiertenkolleg. Jedes Modul arbeitet sowohl intern disziplinär als auch im Forschungsverbund des gesamten NFS Bildkritik interdisziplinär. Die Module haben eigene Budgets und sind in der Lage, Workshops und Tagungen zu organisieren. Die Größe der Module ist recht unterschiedlich und liegt zwischen zwei bis acht Mitarbeitern. Der NFS Bildkritik arbeitet in Basel im Gebäude der Alten Universität am Rheinsprung und hat dort die Möglichkeit, Tagungen, Vorlesungsreihen und Kolloquien durchzuführen. Dieser prominente Ort mit seinen attraktiven Büros und Arbeitsmöglichkeiten soll dazu beitragen, das Thema Bildkritik in der Bilderstadt Basel aus dem engeren akademischen Bereich der Grundlagenforschung in die …ffentlichkeit der interessierten Bürgerschaft hineinzutragen. Insbesondere die Vernetzung mit dem Schaulager in Münchenstein unterstützt diese Intention nachhaltig.


3 Terminus Bildkritik

Im Vorfeld dieses anspruchsvollen Projektes gab es einige erkenntnisleitende Maximen, die im Projektantrag (2004) formuliert worden. Bildkritik

nimmt einen transzendental philosophischen Ansatz auf (Gedanke der internen Reflexivität des Bildes),
profitiert von der Bildwerkstatt der modernen Kunst,
integriert bildgebende Verfahren der Naturwissenschaften,
geht in die Einzelprojekte, mit einer Skepsis gegenüber allgemeiner Theorie.

Insbesondere der transzendentalphilosophische Ansatz bedarf einer Erklärung. Wenn es darum geht, das Bild nicht von externen Bestimmungen her zu definieren, sondern aus den Konstituentien der Bildlichkeit selbst heraus, dann liegt hier zweifelsohne eine Analogie zu Kants kritischem Projekt vor, das Objekt der Kritik, die Vernunft, zugleich als Subjekt der Kritik, also als ausführende Instanz, zu wissen. Kritik ist damit eine interne Grenzbestimmung.

Nun kann freilich Bildwissenschaft, insofern sie als Wissenschaft eine Form des vor allen Dingen sprachlichen Diskurses ist, nicht darin bestehen, dass man auf Bilder mit Bildern reagiert. Aus der Literaturwissenschaft kennt man regelmäßig auftauchende Sätze wie: die beste Theorie des Gedichtes ist das Gedicht selbst. Aber schon die Übertragung dieses in sich nicht unproblematischen Satzes auf das Bild zeigt ein Problem. Denn die beste Theorie des Bildes kann nicht das Bild selbst sein, weil es, als Bild, gerade nicht über die sprachliche Form der diskreten Elemente und der mit ihnen gegebenen, stets vorhandenen Unterscheidungen prozediert. Die immanente Reflexivität des Bildes wird anders zu explizieren sein.

Hilfreich ist hier eine intellektuelle Operation, die bei dem Philosophen Hans Jonas[4] mit dem Terminus "doppelte Unterscheidung" beschrieben ist, auf eine vergleichbare Art aber auch bei Husserl, Wiesing und anderen Bildtheoretikern auftaucht. Denn was meinen wir, wenn wir sagen, dass wir ein Bild sehen? Schon diese Frage benutzt die Worte: meinen (Intention), sagen (Proposition) und sehen (Visualität, Deixis). Wir meinen mit dem Wort Bild nicht den abgebildeten Referenzgegenstand. Zwar sagen wir zum Beispiel zu einem Bild: die Mona Lisa. Aber wir meinen das Gesehene nicht so, dass wir in der Welt diejenige Person suchen würden, die wir auf dem Bild zu sehen vermeinen. Wir unterscheiden also das Wort Bild vom Bildgegenstand als referentiellem Objekt. Zweitens aber meinen wir auch nicht jenen tendenziell zweidimensionalen, viereckigen, oft mit Holz gerahmten Gegenstand aus Leinwand mit Farbauftrag, der in der Regel an einer Wand hängt. Nicht das Gemälde in seiner konkreten Materialität meinen wir, wenn wir Bild sagen. Vielmehr meinen wir: das Bild im Unterschied zu einem auf einem materiellen Träger abgebildeten Gegenstand. Wir unterscheiden also das Bild vom Bildträger und vom Bildgegenstand. Wenn Bild aber weder die Materialität des Gemälde meint, noch das, was auf dem Gemälde so zu sehen ist, dass es auf die Welt verweist, was ist dann überhaupt das Bild? Der ontologische Status dessen, was wir Bild nennen, ist prekär: ein seltsames Dazwischen, eine Art von luftiger Idee, eine eidetische Existenz zwischen Materialität und Referenz, von beiden profitierend, indem es sich von beiden unterscheidet.

Wäre ein Bildtheoretiker in der Verlegenheit, das Wort Bild zu erklären, und wäre er in der noch größeren Verlegenheit, dies vor einem Publikum tun zu müssen, das weitgehend aus Sophisten besteht, dann – und nur dann – gibt Platon den Ratschlag, so zu definieren: ein Bild ist das, was in den Spiegeln und im Wasser erscheint (Sophistes, 239c-240b).

Diese kleine und basale Reflexion – quasi das ABC der Bildtheorie – öffnet eine ganze Serie von Schlussfolgerungen. Die vielleicht interessanteste ist diejenige, dass das Bild als solches immer schon ein in sich reflektiertes Etwas ist. Es konstituiert sich aus einer doppelten Unterscheidung so, dass das Unterschiedene als Unterschiedenes einer virtuellen Präsenz wiederum eingetragen wird, jedoch derart eingetragen sowohl in seiner Referentialität als auch in seiner Materialität im Modus der Negation verbleibt. Damit ist das Bild in sich eine komplexe reflexive Topographie. Es ist dieser Gehalt interner Reflexivität, aus dem der Gedanke einer transzendentalphilosophischen Argumentation zu entwickeln ist.

Ich muss es an dieser Stelle bei Andeutungen belassen und möchte den nächsten Schritt gehen.


4 Literaturwissenschaftliche Bildkritik als transzendentale Reflexion der Frage: Was ist ein Bild?

Was ist die Rolle der Literaturwissenschaft in der Bildkritik? Ich nehme den Vorschlag von Mitchell [5] auf, die Extension des Bild Genannten mit Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit zu bezeichnen und konstatiere schlicht, dass sprachliche Bilder seit jeher ebenso zu dieser Familie gehören, wie die Philosophie von inneren epistemischen Bildern spricht, wenn sie innerhalb der Erkenntnistheorie die Konzeptbildung von Erkenntnis untersucht. Sprachliche Bilder sind eine autonome Form der Bildlichkeit im Familienverband der Bilder. Schon ein kurzer Blick auf die Geschichte der Poetik zeigt, dass viele Versuche, die Poetizität zu erklären, den Weg über die Bildlichkeit der Sprache genommen haben. In diesem Sinne wird also die Literaturwissenschaft innerhalb der Bildkritik an einer sehr traditionellen Fragestellung arbeiten. Andererseits aber sind es gerade alte und grundsätzliche Fragestellungen dieser Art, die dem Denken eine schwere Aufgabe stellen. Die gegenwärtige Literaturwissenschaft kennt nicht wirklich eine elaborierte Bildtheorie des poetischen Textes. Zu den ebenso seltsamen wie symptomatischen Befunden gehört, dass das Wort Bild mit seiner kompletten Nomenklatur fast in allen literaturwissenschaftlichen Texten vorhanden ist, ja, bei genauer Betrachtung sogar inflationär vorhanden ist. Bibliographiert man mit den vorhandenen elektronischen Möglichkeiten das Wort Bild innerhalb der literaturwissenschaftlichen Datenbanken, so wird man eine fast unüberschaubare Treffermenge von Arbeiten erzeugen, die allesamt die Terminologie des Bildes in ihrem Titel tragen. Gleichwohl ist die Literaturwissenschaft, fragt man sie nach dem, was sie unter dem Terminus Bild versteht, in einer erstaunlichen Verlegenheit. Das Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft (Bd. 1: 1997) kennt keinen eigenen Artikel zu dem Lemma Bild, sondern verweist auf die Begriffe Metapher, pictura poiesis und Uneigentlich. Beobachtet man eine zeitlang das Vorkommen des Wortes Bild in literaturwissenschaftlichen Texten, so gewinnt man den Eindruck, der Terminus markiere vor allem einen summarischen und absichtlich unbestimmt gelassenen Konnotationsfächer auf hohem Abstraktionsniveau. Die Aufgabe einer literaturwissenschaftlichen Bildkritik wird zunächst darin bestehen, dem Begriff Bild im Gefüge der literaturwissenschaftlichen Terminologie einen distinkten Ort zuzuweisen. Schon diese gleichsam bescheiden formulierte Aufgabe einer bloßen Nominaldefinition ist von hoher Komplexität.

Neben der Konstatierung, dass sprachliche Bildlichkeit offenkundig ein großes und wichtiges Feld von Bildlichkeit überhaupt ist, lässt sich die Rolle einer literaturwissenschaftlichen Bildkritik im Kontext des NFS Bildkritik aber auch zielgenauer bestimmen. Das literaturwissenschaftliche Modul im existierenden Basler Forschungsverbund trägt den Titel Der poetische Text als Bildkritik. In dieser unbescheidenen Benennung, die ja durch das qualifizierende als die Textualität des Poetischen als Bildkritik deklariert, verbürgt sich eine sowohl inhaltliche wie methodologische These. In seiner genuinen Form der poiesis wird der poetische Text als Instanz der Erzeugung von Bildlichkeit verstanden, während doch zugleich die Formation des Textuellen gegen die Bildlichkeit einen strukturellen Einspruch zu erheben scheint und die Integrität der Bilder zerstört, disseminiert, negiert und zuweilen sogar durchstreicht. Der poetische Text ruft die Bildlichkeit auf und reagiert gleichwohl auf sie tendenziell ikonoklastisch. Als Text muss er seine Textualität, also die Formationen des Diskreten, der linguistischen Unterscheidungspraxis, der semantischen Formalisierung durchsetzen, aber als poetischer Text arbeitet seine poiesis zugleich auch gegen die Textualität. Dieses spannungsreiche und in sich dynamische Gefüge qualifiziert den poetischen Text als Bildkritik im wörtlichen Sinne, nämlich als das zugleich von Bild und von Kritik des Bildes aus dem Bild heraus. Diese Formulierung macht deutlich, dass der poetische Text von sich her immer schon in derjenigen Selbstbezüglichkeit agiert, die seine Adaptation für eine transzendentalphilosophisch gewendete Bildwissenschaft nahe legt.

Man könnte in dieser doppelten Rhythmik von ikonischer poiesis und gegenikonischer Textualität einen gewissen bildkritischen Vorteil der Poesie und auch der Literaturwissenschaft erkennen. Denn ein Literaturwissenschaftler steht nicht vor dem Bild und er fragt auch nicht Was ist ein Bild?, sondern vielmehr liest er Texte und ist immer schon im Inneren der Bildkritik. Er beobachtet beides: wie die poiesis sprachliche Bildlichkeit erzeugt und wie die Textualität die Bildlichkeit wieder zerlegt, quasi ihre Analogizität linguistisch digitalisiert.

Schon methodologisch ist die Nähe der literaturwissenschaftlichen Reflexion zu dem explizierten Bildbegriff zu bemerken. Wenn wir das Bild als den eidetischen Gegenstand im Dazwischen von Materialität und Referenz beschreiben, dann agiert auch hier eine avancierte Literaturwissenschaft von vornherein auf dem epistemologischen Niveau von Bildkritik. Hans Belting hat eines seiner Bücher mit dem polemischen und offenkundig um der Provokation willen formulierten Verdacht begonnen, dass aus ihrer historischen Genese heraus die Kunstwissenschaft schon deswegen den Begriff des Bildes verfehlen muss, weil sie reale Gemälde mit dem Begriff des Bildes verwechselt, um dann erschwerend auch noch vor allem nur die Sonderfälle der Gemälde der Kunst zu behandeln.[6] Vielleicht hängen viele Startschwierigkeiten in der deutschsprachigen Diskussion um die Möglichkeit einer Bildwissenschaft damit zusammen, dass uns die im Englischen vorhandene Unterscheidung zwischen image und picture fehlt. Im Englischen wäre es sinnvoll zu sagen: looking at a picture produces many images. Und es wäre sinnvoll zu sagen, dass man sich vor allen Dingen mit diesen Bildern im Sinne von images beschäftigt, wenn es um das Projekt einer über die Kunstwissenschaft hinausgehenden Bildkritik geht. Die Literaturwissenschaft ist in dem fortgeschritten paradoxen Zustand, images zu haben, ohne pictures anzuschauen. Die interessante Frage lautet, ob dies vor allen Dingen ein Nachteil oder vor allen Dingen ein Vorteil ist. Der Standpunkt jedenfalls einer literaturwissenschaftlichen Bildkritik kann nur der sein, die gegebene Nähe der sprachlich-poetischen Bildlichkeit zu dem mit Hans Jonas explizierten Bildbegriff zu ergreifen und auszunutzen.


5 Die einzelnen literaturwissenschaftlichen Projekte in der ersten Forschungsphase (ab Herbst 2005)

Wie versuchen wir, innerhalb des NFS Bildkritik diese Position der Literaturwissenschaft in konkrete Forschung umzusetzen? In dem literaturwissenschaftlichen Modul arbeiten ein Habilitand und zwei Promovierende, weitere LiteraturwissenschaftlerInnen sind im Graduiertenkolleg und in anderen Modulen angestellt.

Das Habilitationsprojekt zu aporetischen Bildern in der modernen Lyrik beschäftigt sich mit einem nur der Sprache möglichen Grenzfall der Bildlichkeit. Man kann nicht einen Baum nicht malen. Aber man kann dies, dass man einen Baum jetzt nicht malt, sagen. Indem man die Vorstellung, einen Baum zu malen, hervorruft und gleichzeitig sagt, dass man ihn nicht malt, vollzieht der sprachliche Akt eine ikonische Evokation und kombiniert sie mit der Funktion der Negation. Die These der Habilitationsschrift besteht in der Annahme, dass die moderne Lyrik zunehmend solche sprachliche Bilder konstruiert, deren Materialität ikonischer Natur ist, ohne dass sie eine Anschauung erzeugen würden. Denkt man an Harald Weinrichs Aufsatz zur kühnen Metapher zurück, [8] so mag man in diesem Zusammenhang Paul Celans Metapher "Stundenholz" erinnern. Weinrich behauptete seinerzeit, dass Stundenholz eine kühne Metapher wäre, weil es zwischen Stunde und Holz kein Bildfeld gäbe. Vielleicht assoziieren wir mit beiden Wortbestandteilen ikonische Konnotationen, aber wir finden keine Schnittmenge, die selbst irgendeinen ikonischen oder semantischen Gehalt hätte. Interessanterweise hat mir vor geraumer Zeit ein slavistischer Kollege mitgeteilt, dass es in der Bukowina so genannte Stundenhölzer gäbe, auf die, in Ermangelung einer Kirchenglocke, zu jeder vollen Stunde geschlagen wird. Nach dieser Auskunft wäre Stundenholz nicht einmal eine Metapher, sondern schlicht der Name für einen Gegenstand.

Es wäre aber wohl naiv, diese Bestimmung nun einfach in das Gedicht einzulesen. Denn der lyrische Text profitiert von dem Wort Stundenholz vor allem hinsichtlich seiner Unbestimmtheit, die, beschrieben als ikonischer Prozess, auch dann bestehen bleibt, wenn sich eine Semantisierung anbietet. Diese kleine Reflexion kann man methodologisch verallgemeinern. Ist die Semantisierung lyrischer Bilder als ihre Übersetzung in Verständlichkeit wirklich das letzte Wort? Die Hölderlinforschung meint, Verse wie "Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet/ Die Frücht"[8] verstehen zu können, indem ein Schema geschichtsphilosophischer Reflexionsgehalte gleichsam illustriert wird. Es bleibt aber die Frage, ob der Versuch, zunächst die ikonische Präsenz zu entwickeln, nicht doch zunehmend in die Spannung zur Semantisierung des Bildlichen tritt. Hölderlin als Matrix für den Prozess der modernen deutschsprachigen Lyrik zu verstehen, geht in dieser Arbeit mit dem Versuch einher, die lyrischen Bilder in diejenige Unverständlichkeit zurück zu übersetzen, die dem Bild in der Differenz zu seiner semantischen Kodierung zukommt. Indem die Arbeit ihren Ausgangspunkt bei evidenten Grenzfällen lyrischer Bildlichkeit nimmt, weitet sie aber zugleich diese Fragestellung auf den Prozess sprachlicher Bildlichkeit in der Poesie aus.

Ein zweites Projekt ist ebenfalls mit der Lyrik beschäftigt. Stefan Georges Werk wird einer Lektüre unterzogen, die den Blick von der Bildlichkeit zur Szene der Reziprozität des Blickes wendet. George, der in seinen symbolistischen Anfängen mit prunkender Bildlichkeit begann (Algabal), entleert zunehmend sein lyrisches Oeuvre von den Bildern und findet zu einem formalisierten Stil der Abstraktion. Ist dieser Werkprozess, der auf verschiedene Weise schon mehrfach beschrieben worden ist, vor allem dann zu verstehen, wenn man die These aufstellt, dass George zunehmend eine Transzendentalpoesie oder poetologische Reflexion auf die Voraussetzungsstrukturen des Bildes durch eine Poetologie des Sehens und des Blickens vollzieht?

Der Prosa Jean Pauls widmet sich ein Projekt, dass das frühe satirische Werk Jean Pauls mit seinem ersten Roman, Die unsichtbare Loge, verbindet – eine Fragestellung, die so in der Forschung noch nicht angegangen worden ist. Auch hier ist ein bildtheoretisches Interesse leitend. Jean Pauls Satiren sind vor allen Dingen Wissenschaftssatiren; er übersetzt die ikonischen Modellbildungen, die den zeitgenössischen Wissenssystemen zu Grunde liegen, in die satirische Entstellung, um an diese epistemologisch-reflexiven Bilder des Wissens eine selbst wieder ikonisch gesteuerte Textproduktion anzuschließen. Jean Pauls Texte arbeiten sich wie eine Mäusefamilie von Metaphern und Metonymien voran, sie sind wahre Kettenschlusssysteme des Bildlichen. Diesem ersten Transfer von ikonischen Modellbildungen wissenschaftlicher Systeme in satirische Bilder des Wissens gesellt sich ein zweiter Transfer. Denn wie übersetzt Jean Paul das relativ statische Modell jeweils einzelner Satiren in eine Romanhandlung? Zu den Begriffen Wissen und Bild kommt also hinzu: Handlung oder Praxis. Anhand des komplexen literarischen Materials von Jean Paul soll diese Arbeit also auch die grundlegenden Konzepte ikonischer Transferhandlungen von Wissen in Bild und von Bild in Narration bedenken.

Ein weiteres literaturwissenschaftliches Projekt beschäftigt sich mit Adalbert Stifter, der als Dichter und Maler beide Dimensionen – Sprache und Bild – in seinem Werk integriert hat. Der methodologische Fokus dieses Projektes liegt bei den Begriffen Ekphrase und Paraphrase. Die Texte Stifters kennen eine intensive Bildlichkeit, zugleich sind sie aber in der neueren Forschung auch zum Exerzierfeld poststrukturalistische Texttheorie geworden. Vom Maler Stifter her lassen sich die poetischen Bildentwürfe als ekphrasis verstehen, von einem starken Textbegriff her, ist aber Stifters Textualität vor allem paraphrasis des eigenen Verfahrens. Diese Spannung, die wechselseitig Textualität und Bildlichkeit als Mittel zum Zweck denkt, soll in diesem Projekt von beiden Seiten her gedacht werden.

Innerhalb des Graduiertenkollegs entsteht eine Arbeit zu den silvae poeticae – den poetischen Wäldern. In nicht wenigen Texten dient der Wald als Metapher für Textualität, aber zugleich als Metapher für Unanschaulichkeit. Die Verborgenheit im Wald, paradoxierend könnte man sogar sagen: die Verborgenheit des Waldes im Wald ist aber auch ein Tatbestand subvertierender Politik. Carl Schmitts Theorie des Partisanen und Ernst Jüngers Waldgänger begehen den Wald wie Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre. Unanschaulichkeit im Wald als Poetologie des Textuellen, Textpolitik und Subvertierung des Politischen aus dem Wald heraus: dieses dynamische Feld einer poetischen Ikonologie der Unanschaulichkeit steht im Zentrum dieses Promotionsprojektes.

Ein weiteres Promotionsprojekt beschäftigt sich mit der Faszinationsgeschichte des Hieroglyphischen. Der Terminus Hieroglyphe taucht in der Kritischen Theorie ebenso auf wie in der hieroglyphischen Poetik der Romantik; und die Beschäftigung mit dem Hieroglyphischen war weithin, auch über die Zäsur der Entzifferung der Hieroglyphen hinaus, eine Chiffre für die ikonische Organisation von Textualität. Der Kontext einer literaturwissenschaftlichen Bildkritik ist für dieses Projekt ebenso der geeignete Ort wie für ein weiteres, auf eine Habilitationsschrift hin angelegte Forschungsprogramm, dass sich mit dem interkulturellen Austausch von ideogrammatischen Sprachzeichen beschäftigt. Welche Funktion haben fernöstliche Schriftzüge in westlichen Graffitis? Wie wird die Ikonisierung unserer Benutzeroberflächen interkulturell kodiert? Welche Überkreuzung von zeichentheoretischen und bildtheoretischen Überlegungen etwa im Anschluss an Roland BarthesÕ Japan-Buch sind in Anschlag zu bringen, um diese Fragstellungen voran zu treiben?

Überblickt man diese Arbeiten, so wird man trotz der unterschiedlichen Themenstellungen und Materialien zwei Beobachtungen machen können. Erstens: Es gibt einige Arbeiten, die aus dem Zentrum genuin literaturwissenschaftlicher Fragestellungen heraus entstehen. Dass sie freilich ihr Argumentationsinteresse durch eine explizite Aufnahme des literaturwissenschaftlich so nicht etablierten Bildbegriffes formieren, führt in diesen engeren disziplinären Raum eine immanente Interdisziplinarität ein. Im Zentrum dieser Projekte steht auf verschiedene Weise die Erörterung der Kernthese, nach der der poetische Text Bildkritik in dem Sinne ist, dass er die Bildlichkeiten, die er evoziert, immer auch unterwandert, aufbricht, zerstreut und vielleicht sogar negiert. Zweitens: Es gibt Projekte, die ausdrücklich den Schritt von der Literaturwissenschaft in den weiteren Raum der Kulturwissenschaften gehen, Interdisziplinarität also durch den direkten und expliziten Kontakt verschiedener Wissenschaftstraditionen suchen. Beide Optionen sollen im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Bildkritik durchgespielt werden.

Die Frage, ob man die These, der poetische Text sei Bildkritik, auch als solche, nämlich im theoretischen Begründungsgang herleiten kann, führt auf komplexes, sowohl poetologisches wie sprachphilosophisches Terrain. Es zu sondieren, ist seit geraumer Zeit mein eigener Ehrgeiz.


Anmerkungen

* Der folgende Text wurde im November 2006 bei der Jahrestagung der Schweizer Akademischen Gesellschaft für Germanistik vorgetragen. Er stellt das Forschungsprogramm des Nationalen Forschungsschwerpunktes (NFS) Bildkritik, der seit Herbst 2005 an der Universität Basel beheimatet ist, aus der Sicht der literaturwissenschaftlichen Teilprojekte dar. Es handelt sich um eine Momentaufnahme (Stand: Herbst 2006). Weder ein Forschungsbericht noch eine systematische Grundlegung sind an dieser Stelle intendiert, weshalb mit Fussnoten sparsam umgegangen wird. Der Rededuktus wurde beibehalten. zurück

1 Mit der Elektrifizierung der Medien ist fast ein jedes neue Medium der Sekundäreffekt einer Kriegstechnologie. Die Übertragung des Repetiermechanismus des Maschinengewehrs führte zur Filmtechnologie, das Echolot zur Stereoanlage, das Radar zum Fernsehen, die in der Spionageabwehr verwendeten Dekodierungsmaschinen zum Computer und das dezentralisierte Informationssystem des amerikanischen Militärs zum Internet. Seitdem die Medien heiß geworden sind und Elektrizität ihr Motor ist, gehen wir in unserem täglichen Mediengebrauch mit Benutzeroberflächen um, deren taktile Struktur Kriegstechnologien entspringt und denen auf der Seite des anthropologischen Apparates eine Einübung von Reflexen entspricht, welche sich direkt dem Maschinenpark der Machtstrategien anpassen. Vgl. zu diesen Bemerkungen: Hörisch, Jochen (2001): Der Sinn und die Sinne. Frankfurt am Main: 303 ff. zurück

2 Maar, Christa / Burda, Hubert (eds.) (22004): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln. zurück

3 Vgl. diesen Terminus bei Wiesing, Lambert (2005): Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt am Main. zurück

4 Jonas, Hans (1994): "Homo Pictor. Von der Freiheit des Bildens". In: Boehm, Gottfried (ed.) (1994): Was ist ein Bild? München. zurück

5 Mitchell, W.J.T. (1990): "Was ist ein Bild?". In: Bohn, Volker (ed.): Bildlichkeit. Frankfurt am Main: 19ff. zurück

6 Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie. München: 14–18. zurück

7 Weinrich, Harald (1996): "Semantik der kühnen Metapher". In: Haverkamp, Anselm (ed.): Theorie der Metapher. Darmstadt: 338. zurück

8 Hölderlin: Mnemosyne. In: Knaupp, Michael (ed.) (1992): Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe. Darmstadt. Band I: 437. zurück


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