Germanistik in der Schweiz

Online-Zeitschrift der SAGG, Heft 4/2007


Wege zu einer historischen Mediologie

Christian Kiening (Zürich)



Der Nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) "Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven", der zum 1. Oktober 2005 seine Arbeit aufgenommen hat und in Zürich sein leading house besitzt, untersucht Formen von Medialität vor dem Zeitalter der Medien, also vor jenen Epochen, die seit etwa 1800 einen Begriff von Medien als Kommunikationsmitteln etabliert haben (zu Struktur und Teilprojekten siehe www.mediality.ch). Er folgt deshalb jenen medienwissenschaftlichen Ansätzen, die bereits von ihrem Entstehungs­kontext her auf zeitgenössische Phänome­ne der Kommunikations-, Verbreitungs- oder Massenmedien bzw. der elektronischen oder digitalen Medien bezogen sind, nur bedingt. Er orientiert sich statt an globalen Mediengeschichten, die ältere Epochen nur als mehr oder weniger relevante Vorgeschichten betrachten, an philosophischen Medientheorien, die den Blick von den (neuzeitlichen) Kommunikations- und Verbreitungsmedien weg und auf die Prinzipien und Grenzen des Medialen hin richten: auf die Inszenierungen und Paradoxien, die Konstitutions- und Beobachtungsbedingungen von Medialität. Tatsächlich stellt ja bereits die Beobachtbarkeit des Medialen eine Kippfigur dar: Nicht nur sind Medien nicht als solche gegeben, auch Medienträger "sind für uns nur dann zugänglich, wenn sie gerade nicht als Medienträger fungieren, sondern sich schlicht als Gegenstände der profanen Außenwirklichkeit präsentieren – wobei sich dann wiederum die Frage stellt, von welchen Zeichenträgern diese Geräte ihrerseits präsentiert und getragen werden" (Groys 2000: 21).

Diese 'Unschärferelation' des Medialen legt es nahe, sich auf das breite Bedeutungsspektrum von medium zu besinnen, um über die Kommunikations-, Verbreitungs- und Übertragungs­medien hinaus zu einer systematischen Bestimmung des Medialen vorzustoßen. Und sie legt es nahe, die Frage, was Medien seien, umformulieren zu der Frage, was in welchen Situa­tionen und Konstellationen als Medium gebraucht und in welcher Weise dieser Gebrauch institutionalisiert und reflektiert wurde. Dementsprechend geht der medial orientierte Zugang zu vormoderner Überlieferung im NFS nicht darin auf, die mediengeschichtliche Perspektive nach rückwärts zu verlängern. Er zielt vielmehr darauf, die historischen Eigendynamiken von Medialität herauszuarbeiten. Zweifellos können ja Kommunikations-, Überlieferungs- und Verbrei­tungsformen früherer Gesellschaf­ten, auch wenn in ihrer Zeit nicht als kategorial zusammen­hängend erfasst, als 'Medien' bezeichnet und in ihren je eigenen historischen Prozessen verfolgt werden. In diesem Sinne ließen sich schon für das Altertum sowohl ein elaborierter Mediengebrauch als auch eine nuancierte Medienreflexion nachzeichnen. Doch um jene historische Mediologie zu profilieren, die der NFS ins Auge fasst, genügt es nicht, Beobachtungen, an verschiedenen Medien gemacht, zu bündeln. Es ist vielmehr eine genuin mediale Perspektive zu entwickeln, in der sich die Untersuchung, wie Medialität kulturelle Sinnbildungs­leistungen prägt, mit dem Anspruch verbindet, nicht einfach Medienbeschreibungen zu historisieren, sondern die historischen wie systemischen Bedingungen der Möglichkeit des Medialen ans Licht zu bringen (vgl. Kiening 2007).

Die Vormoderne kann dafür besonders geeignet sein, ist sie doch noch nicht von jenen scheinbar selbstverständlichen Formen bestimmt, die wir als 'Medien' fassen, und ist sie noch nicht von jenem Modell einer primär medial, durch Beobachtungsverhältnisse zweiter Ordnung geprägten Welt durchdrungen, das wir für die Zeit nach 1800 anzunehmen gewohnt sind. Sowohl die antike wie die mittelalterliche Theologie, Philosophie und Wissen­schaft gingen von einer inneren (substanziellen, genealogischen, logischen) Beziehung zwischen dem Medium und seinen Bezugspunkten aus. Für Aristoteles (De interpretatione I, 16 a 3) und andere galt die Stimme als der Seele verwandt: "Als Erzeuger des ersten Signifi­kanten ist sie nicht bloß ein Signifikant unter anderen. Sie bezeichnet den 'Seelenzustand', der seinerseits die Dinge in natürlicher Ähnlichkeit widerspiegelt oder reflektiert" (Derrida 1967/1983: 24). Im Rahmen der Sehtheorien war das platonische Modell einflussreich, demgemäß das Auge oder der Sehstrahl ein Medium ist, welches Substanzen transportiert und Berührungen herstellt: "Wenn der innere Strahl aus dem Auge auftaucht, vermischt er sich mit dem äußeren Licht und dehnt sich bis zum undurchsichtigen Gegenstand aus. Auf Grund seiner natürlichen Beweglichkeit verteilt er sich ganz auf der Oberfläche des Gegenstands und übernimmt seine Gestalt (figura) und Farbe. Auf diese Weise geformt und gefärbt, kehrt der Strahl durch dieselben …ffnungen zur Seele zurück und bringt die Gestalt und Farbe des Gegenstands mit" (Lindberg 1976/1987: 169).

Noch in der frühneuzeitlichen Naturphilosophie eines Paracelsus, wo der Ausdruck medium ins Deutsche übernommen ist, bezieht er sich überwiegend auf aisthetische, magische oder metaphysische Zusammenhänge. Wenig später aber, im Rahmen der sich entwickelnden Naturwissen­schaften, der Optik und der Akustik rücken die Eigenschaften von Trägersub­stanzen und die Dimensionen von Übertragung, Vermittlung und Verbrei­tung ins Zentrum. Im Gefolge von Keplers Netzhauttheorie etabliert sich eine mechanisier­te Vorstellung des Sehaktes, die schließlich auch in den 'technisierten Blicken' von Literatur und Kunst ein Entfaltungsfeld findet. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert weitet sich das Bedeutungs­spektrum des Ausdrucks in Kunst, Literatur und Ästhetik, Physik und Technik, Magnetis­mus, Mesmerismus und Spiritismus: 'Medium' bezeichnet nun einerseits ideelle Formen der Reflexion als Vermittlungen zwischen Transzendenz und Immanenz sowie den Menschen als Medium, andererseits physikalische Formen der Übertragung (Fluidum, Äther, Kräfte) und den Automaten als "äußerlich sichtbare[n] Teil einer komplexen Medienanordnung" (Hoffmann 2002: 148).

In diesem Zusammenhang konstituiert sich ein neuartiges Spannungsfeld des Medialen zwischen Materiellem und Immateriellem. In ihm gilt das 'Medium' gegenüber den Gege­benheiten, zwischen denen es 'vermittelt', als neutral und nicht mehr irgendwie gleichartig. Locke begründet eine Zeichentheorie, in der zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem keine Ähnlichkeitsbeziehung mehr herrscht. Empiristen wie Ferguson gehen zwar von 'Mittelursachen' aus, welche die Wahrnehmung der Dinge bewirken, denken sich diese aber als der ersten Ursache oder dem Gegenstand der Wahrnehmung unähnlich. Laurence Stern entwirft in seinem Tristram Shandy (1759-1766) eine Poetik medialer Kontingenz, Friedrich Schiller in seinen Philosophischen Briefen das Bild eines Risses zwischen Gehirn/Bewusstsein und Natur/Wirklichkeit, der allein dadurch gekittet wird, dass das erstere selbst der materiellen Welt angehört. Für Friedrich Schleiermacher (Reden über die Religion, 1799) ist eine emphatische religiöse Kommunikation ohne Mittlerinstanzen nurmehr als Wunsch­traum vorstellbar.

Die Zeit um 1800 kann mediengeschichtlich als Brückenzeit gelten: In ihr wirken alte, teilweise im Gefolge der Empfindsamkeit erneuerte Konzepte körper- und anwesenheits­geprägter Kommunikation fort. In ihr kommen aber auch eine starke Technisierung von Aufzeich­nungsformen und eine Mechanisierung der Kommunikation zur Geltung. Es formieren sich historistische 'Medien der Präsenz', die voraus­setzen, dass Medialität gerade aufgrund ihrer Nichtidentität mit dem Ursprünglichen und Wirklichen Präsenz- und Intensitätseffekte produziere. Es formieren sich auch explizite Modelle von Kommuni­kation und Medialität, die eine konstitutive Rolle noch für die Moderne spielen – und damit auch für die Art und Weise, in der diese das Mittelalter bzw. die 'Vormoderne' konturiert. Friedrich Nietzsche brandmarkt in Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1872/73) die Idee einer Wahrheit der Sprache oder eines unmittelbaren Zugangs zur Wirk­lichkeit als Illusion. Ludwig Wittgenstein stellt in seinem Tractatus fest: "Die Grammophon­platte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zu einander, die zwi­schen Sprache und Welt besteht. Ihnen allen ist der logische Bau gemeinsam" (Wittgenstein 1921/1984: 4.014).

Erst im Zuge dieses hier nur stichwortartig aufgerufenen Prozesses wird Kommunikation zum bevorzugten Entfaltungsort des Medialen und entstehen soziale Systemstellen des Medialen, die als immanente und neutrale verschieden besetzt werden können – so wie umgekehrt verschiedene 'Medien' nun erst als kategorial gleichartig eingestuft und entsprechend theoretisiert werden können. Damit ist die Differenzfolie bezeichnet, vor der sich die im NFS angestrebte mediale Kartierung vollzieht. Sie wird vorgenommen anhand von fünf strukturierenden Kategorien, die Perspektiven einerseits auf innere Bedingungen des Medialen ('Interferenz', 'Ostenta­tion', 'Übertragung'), andererseits auf kontextuelle Rahmenbedingungen ('Institutionalisierung', 'Instrumentalisierung') ermöglichen. In je anderer Weise zielen sie darauf, Medialität nicht als äußerlichen, sondern als konstitutiven Aspekt von Sinngefügen zu profilieren.

Schrift, Bild oder Objekt erweisen sich dementsprechend nicht sosehr als Einzelmedien denn als je eigene Formen komplexer Medialität, an denen das Verhältnis von Materialität und Semantik (das die Moderne meist einseitig auf die Semantik hin perspektiviert) in historischer Eigentümlichkeit zu beobachten ist. Diese Eigentümlichkeit besteht, wie angedeutet, darin, dass zwischen dem Medium und seinen Bezugspunkten ein Partizipations- und Ursprungsverhältnis herrscht. Das Medium kann, so andersartig es erscheinen mag, als Spur seines eigenen Ursprungs, als Teilhabe an seiner eigenen Möglichkeits­bedingung gedacht werden. Es kann nicht nur als Träger von Signifikanten gelten, sondern in die Position des Signifikats treten – gemäß jener Vorstellung, die zum Beispiel Augustinus in seinen Confessiones vermittelte, die Erscheinungen der Welt, etwa die Himmelskörper, seien Elemente der göttlichen Selbstmitteilung gegenüber dem Menschen (Confessiones 1934/1969: XIII, XVIII, 23). Zwar stand diese Vorstellung, im 12. Jahrhundert von Hugo von Sankt Viktor auf die griffige Formel gebracht, in der Rede Gottes hätten nicht nur die Wörter, sondern auch die Dinge Bedeutung, immer (wieder) in Spannung zu der anderen Vorstellung, die Schöpfung sei durch die menschliche Verworfenheit gestört und allenfalls durch Transzendierung oder durch Transformierung vor dem Auge des Geistes als Medium des Göttlichen lesbar. Doch preisgegeben war das onto-theologisch gegründete Modell einer (prinzipiellen) Substanz­relation zwischen Schöpfer, Medium und Geschöpf damit nicht. Was Augustinus theolo­gisch unter Rückgang auf den 2. Korintherbrief bezüglich Christus formuliert, dieser sei ein wahrer Mittler, aber nichts Mittleres (Conf. X, XLIII, 68), lässt sich auch von all dem sagen, an dem Heil sichtbar wird oder sich vollzieht: Dieses ist ein 'Mittel' und doch mehr als eine bloße 'Mitte' zwischen zwei Einheiten. Das 'Medium' ist eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Modalitäten der 'Darstellung' und verschiedenen Modalitäten der 'Übertragung'. Es ist ein herausgehobener Ort der Paradoxie, weil es sowohl zwischen Präsenz und Absenz als auch zwischen Immanenz und Transzendenz vermittelt.

Das gilt nicht nur für Heil, das symbolisch generalisierte Kommunikations­medium des Mittelalters schlechthin. Allgemein war alles Mediale gleichzeitig durch Fülle und Mangel charakterisiert: Jedes Mittel, Transzendentes zum Vorschein zu bringen, konnte zum einen mehr als ein kommunikatives Mittel sein: nämlich ontisch am Vermittelten teilhaben, zum andern auch weniger als ein ontisches Mittel sein: nämlich kommunikationsbezogen von seinem Ursprung entfernt oder abgeschnitten sein. Medien erscheinen als solche, die sowohl Abwesendes vergegenwärtigen und Distanz überbrücken als auch Aura herstellen und Heil übertragen. Sie sind "Medien der Repräsentation, des Gegenwärtig-Werden-Lassens, In-die-Gegenwart-Rufens" (Wenzel 1995: 307). Doch sie setzen immer auch eine Differenz voraus, die sie als Medium sowohl zu schließen verheißen wie sichtbar machen. Zeichen, Bezeich­netes und Interpret gehorchen keiner reinen Verweisbeziehung, doch einer komplexen Logik von Identität und Differenz.

Die Perspektiven des NFS gelten solchermaßen bei unterschiedlichem Material je neu den Aspekten medialer Auffälligkeit: den Prozessen, in denen kommunikative Praktiken sich verändern (Medienwandel), den Situationen, in denen mediale Formen Dynamisierung erfah­ren (Medienwechsel), den Semantiken, an denen sich fassen lässt, wie Kommunikation und Medialität ausgestellt oder verhandelt werden (Medienwissen). Zentrale Bedeutung besitzt dabei eine Kategorie wie die der Ostentation. Sie betrifft nicht nur, wie der verwandte Begriff der Ostension, Phänomene des Zeigens oder Beweisens, Enthüllens oder Kundtuns, des De­monstrierens oder (Sich-)Mani­festierens, der Vision oder Revelation. Sie betrifft ein bestimm­tes Maß an Auffälligkeit und Inszenierungshaftigkeit. Sie bezieht sich auf Vorgänge, bei denen etwas als vorhanden vorausgesetzt, gleichzeitig aber mittels bestimmter Strategien im Zeigen konstituiert bzw. re-präsentiert wird. Sie verkörpert eine Spannung zwischen (1) einem auf das Auge bezogenen Äußeren und einem auf den Geist bezogenen Inneren, (2) einem Zur-Erscheinung-Bringen und einem Zur-Erschei­nung-Kommen, (3) einer Dimension, notwendig, um Bedeutung und Geltung herzustellen, und einer Dimension, überschüssig in ihrer Plakativität.

Ostentation ist eine der im NFS erprobten Kategorien, die zwischen historischen Situationen und modernen Theorien vermitteln können. Sie führt einerseits auf theoretische Ansätze, welche die Dimension des Zeigens gegenüber der des Sagens oder Bedeutens aufwerten: Bühlers 'Zeigfeldtheorie', Heideggers 'Zeige' oder Wittgensteins 'Aufmerksamkeit'; aus jüngerer Zeit: Ecos Verständnis des Zusammenhangs von Signifikation und Performanz, Merschs Entwurf einer performativen Ästhetik des sich zeigenden Ereig­nisses, Rancires Konzept des 'image ostensive' als Ausdruck einer Präsenz, die sich selbst im Akt des Etwas-präsent-Machens ausstellt. Ostentation führt andererseits auf ein histo­risch vielfältiges Material aus der Frömmigkeitsgeschichte des hohen und späten Mittel­alters: die Einführung der Elevation der Hostie (und des Kelches), die Sichtbarmachung der Reliquien in den Reliquiaren, die Ausbildung von Prozessionen als öffentlichen Akten performativer Zurschaustellung, die Einsetzung des Fronleichnamsfestes als eines hochsymbolischen 'Meta-Festes' zur Visualisierung des Transsubstantiations­geschehens, die Entstehung von spektakulären Heiltumsweisungen, die Verfestigung von ikonographi­schen Mustern (Ecce homo, Vera icon, Ostensio vulnerum, Auferstehung).

Doch meint Ostentation nicht nur derartige Schauphänomene. Sie charakterisiert generell das Zusammentreffen von Selbstausstellung und Selbstüberschreitung des Medialen, wie es in vielerlei Formen historisch greifbar wird: dort, wo performative (die semiotische Differenz überspielende) Vollzüge und reflexive (die semiotische Differenz bewusst machende) Dimensionen einander ergänzen und wechselseitig steigern. In diesem Sinne widmet beispielsweise die bronzene Tür des Hildesheimer Domes (1015), die am Anfang einer Tradition steht und ihrerseits Teil eines komplexen Ausstattungs­programms ist, in ihrer Erzählung der menschlichen (Un-)Heils­geschichte medialen Aspekten besonderen Raum (vgl. Bogen 2004). Die beiden Flügel, links nach unten von der Erschaffung des Menschen bis zum Tod Abels, rechts nach oben von der Verkündigung bis zur Auferstehung Christi führend, zeigen verschiedene göttliche und humane Medien des Heils: (1) das Buch Gott­vaters und die Bücher der Evangelisten unter dem Kreuz, (2) die schaffende, urteilende oder richtende Hand Gottes, die aufnehmenden Hände Christi und der Engel, die Hände Adams und Evas sowie Kains und Abels – sie alle bezogen auf das die Darstellung überschreitende performative Moment der konkreten Handhabung der Tür, das in den großen Türklopfern manifest wird. Dieses Moment erfährt eine weitere Reflexion durch (3) die Darstellung von verschlossenen, offenen oder halboffenen Pforten und Durchgängen auf der Tür selbst – eine Bezugsstiftung zwischen intra- und extradiegetischer Situation. Kirchenbesucher und Betrachter werden eben an der Schwelle zum Raum des Heils mit der Repräsentation einer Schwelle konfrontiert, die das Räumliche mit dem Überräumlichen und das Zeitliche mit dem Überzeitlichen verbindet. An genau der Stelle, an der die Türen sich öffnen und als Türen zurücktreten, erscheinen sie selbst als Medium – zwischen Außen und Innen, Greifbarkeit und Ungreifbarkeit, Sinnfülle des Gegenwärtigen und Verheißung des erst Kommenden, Materialität (Schöpfung, Logos) und Immaterialität (Noli me tangere), Konkretheit und Abstraktheit, Darstellung und Vollzug des Medialen.

Auch andere mediale Schwellenobjekte sind von solchen einerseits symbolisierenden, andererseits desymbolisierenden Bewegungen geprägt. Taufbecken etwa markieren den Eintritt in die Gemeinschaft des Heils und die Institution der Kirche in Form eines materiellen Objekts, das seinerseits eine figurativ-symbolische Repräsentation enthalten kann. Sie bewahren das Heilsmedium des geweihten Wassers und sind Teil eines Rituals, in dem sich ein Ur-Ritual (die Taufe Christi im Jordan) wiederholt. Sie situieren sich somit im Schnittpunkt zwischen historia (Geschichtlichkeit der Taufe als Begründungsinstitut christlicher Gemeinschaft) und veritas (Fülle der Wahrheit in der endzeitlich-überzeitlichen Gemeinschaft). Gleichzeitig thematisieren sie diesen Schnittpunkt in den Szenen, die sie zeigen. So zumindest in einem der frühesten und spektakulärsten Beispiele des Genres: dem Reiner von Huy zugeschriebenen Taufbecken der Kapelle "Unsere Liebe Frau am Tauf­becken" zu Lüttich (vermutlich zwischen 1107 und 1118; vgl. Reudenbach 1984). Es ruht auf (ursprünglich) zwölf Bronzerindern, die metonymisch an das im Buch der Könige 7,23 in Zusammenhang mit dem Tempelbau Salomons beschriebene eherne Meer erinnern. Es steht damit im wahrsten Sinne des Wortes auf einem figurativen Vorbild, das es realisiert und reflektiert, als Schrift präsent hält und über die Schrift hinaus 'erfüllt'.

An seinen vier Seitenwänden zeigt das Lütticher Becken fünf chronologisch aufeinander folgende Szenen, allesamt auf das Taufgeschehen bezogen: (1) die Predigt Johannes des Täu­fers in der Wüste von Judäa; (2) die (Buß-)Taufe der Neubekehrten als Ankündigung der Taufe im Geiste durch Christus; (3) die Taufe Christi als zentrale Hauptszene; (4) die Taufe des Zenturio Cornelius durch Petrus und (5) die Taufe des Philosophen (Krato). Mit dieser Folge vergegenwärtigt und vermittelt das Becken ein zentrales (Ursprungs-)Moment christo­logischer Heilsstiftung: die Taufe Christi, die Verkün­digung seiner Göttlichkeit durch Gott­vater, die Offenbarung des Heiligen Geistes, die Heiligung der Welt, der jüdischen wie der griechisch-römischen, der weltlichen wie der geistlichen. Dieses Moment ist ein histo­risch-zeitliches wie heilsgeschichtlich-überzeitliches, greifbar in der Plastizität des Gesche­hens, das aus der Wand des Beckens heraustritt, und zugleich überhöht in der Aura der Schrift, die die Figuren umgibt: Schriftstücke erweisen Petrus (Schriftrolle) und Johannes (Evange­lienbuch) als autoritative Zeugen des göttlichen Wortes. Inschriften in den Bildfeldern und auf den Beckenrändern machen das Wort der Evangelisten gegenwärtig und die perfor­mativen Akte des Heilsvollzugs nachvoll­ziehbar (facite ergo, ego vos baptizo, ego a te debeo baptizari, ego te baptizo). Das Becken bezieht sich auf ein vergangenes Kunstwerk/Heilswerk, einen berühmten Heilsort (den Tempel Salomons, in dem das "erzene Meer" seinen Ort hatte) und heilsstiftende Akte, die allesamt nicht einfach wiederholt oder dargestellt, sondern in einen Sinnvollzug integriert werden, der seine mediale Dimension sowohl darbietet wie übersteigt. Über die horizontale und die vertikale Achse entfaltet sich die irdische Ausbreitung des göttlichen Logos als Engführung symbolisch generalisierter Medien (Taufe, Wasser, Geist) und verbreitungsbezogener Medien (Predigt, Schriftrolle, Buch). Zugleich wird im Hin und Her zwischen Materiali­sierung und Symbolisierung die Hoffnung genährt, das Becken selbst als Medium vermöge nicht nur die Heilsstiftung zu zeigen, sondern die Gläubigen an ihr partizipieren zu lassen.

Die knapp gestreiften Beispiele mögen andeuten, dass der mediale Blick keiner sein muss, der bloß bekannte Phänomene in neue Terminologie kleidet. Ihm kann vielmehr eine genuin erschließende Kraft innewohnen – wenn er sich auf Situationen richtet, in denen materielle Formen auf mediale Prinzipien hin transzendiert werden, ontologische und epistemologi­sche mit kommunikativen Aspekten in ein Verhältnis treten oder generell mediale Gegeben­heiten ostendiert, inszeniert oder reflek­tiert werden. Gegenstand der Untersuchung im NFS sind also nicht allein die äußeren medialen Bedingungen von Kommunikation, Überliefe­rung und Sinnbildung, sondern mindestens ebensosehr die inneren, in denen jene äußeren ihrerseits ausgestellt oder dargestellt werden können. Die Ausstellung manifestiert sich in der Art und Weise, in der Texte, Bilder und Objekte, indem sie etwas sagen oder zeigen, ihr eigenes Sagen oder Zeigen mit in den Blick rücken: zum Beispiel in der Fülle von Möglich­keiten, durch Schrift und Mise-en-page, Sprache und Rhetorik, Metrum und Rhythmus Hervorhebungen zu schaffen. Die Darstellung manifestiert sich als Beobachtungssituation zweiter Ordnung in all jenen Formen, die mediale Ursprünge, Strukturen, Konstellationen, Funktionen und Entwicklungen in den Blick rücken.

Zu berücksichtigen ist dabei zum ersten das ganze Spektrum materieller Typen (Schrift­stücke, Druck­werke, Objekte, Wand-, Glas- und Tafelgemälde etc.) und medialer Konstella­tionen (Texte, Bilder, Diagram­me, Karten etc.). Zum zweiten das ganze Inventar der Formen, die zwi­schen einzelnen Text- oder Bildelementen multiple Beziehun­gen stiften: syntagma­tische wie paradigmatische, semantische wie klangliche oder graphische. Zum dritten die ganze Reich­weite sowohl medialer Selbst­beschreibungen wie medialer Selbstüberschreitun­gen, die beide zusammen die epistemische wie performative Dimen­sion des Medialen aus­machen. Beispielsweise in Texten: eine Beschreibung von Objekten, Malereien und Räumen, von Gegebenheiten des Erzäh­lens, Dichtens, Schreibens, Singens oder allgemein Kommu­ni­zierens; eine Thematisierung der Formen, Intentionen und Funktionen von Texten, zum Bei­spiel des Verhältnisses von Vers und Prosa; eine Potenzierung durch Reflexion der (Grenzen der) Schrift in der Schrift. In Bildern: ein Spiel mit Nischen, Fenstern, Türen und Rahmen, Gemälden, Karten und Spiegeln, Bildern, Materialien und Spolien, eine Spannung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von äußeren und inneren, realen und mentalen Formen.

Eine historische Mediologie schließt an die in jüngerer Zeit intensivierten Bemühungen um die Eigenheit vormoderner Texte, Bilder und Objekte an. Sie greift andererseits über diese hinaus, indem sie die Bestimmung dessen, was jeweils als Text, Bild oder Objekt fungiert, vom Ensemble aller Formen her vornimmt und auf die Strukturen ihres vermittelnden Dazwischen bezieht. An die Stelle einer Fixierung auf die bekannten Konstanten mediengeschicht­licher Umbrüche tritt dabei eine Fokussierung von Prozessen, Situationen und Semantiken. Aus ihnen können partiellere, aber auch tiefenschärfere Bilder vormoderner Medialität hervorgehen – weniger geeignet für das Narrativ einer ins Digitale mündenden Medienteleologie, dafür interessanter für eine Beschreibung der historischen Bedingungen der Möglichkeit des Medialen. Den gegenwärtigen medienwissenschaftlichen, -historischen und -theoretischen 'Wild­wuchs' begreift der NFS nicht einfach als Problem, sondern auch als Chance. Als Chance, inter- oder transdisziplinäre Applikationen, Anschlüsse und Übertragungen kritisch zu befragen, kulturwissenschaftliche Kernbegriffe wie historische Modelle zu reflektieren und zu differenzieren.


Literatur

Augustinus (1934/69): Confessiones, hg. von Martin Skutella. Leipzig. (verbess. Ausgabe Stuttgart).

Bogen, Steffen (2004): "Türen auf Bildertüren. Zum Ort, Medium und Selbstverständnis christlicher Bilderzählung". In: Fabio Crivellari et al. (ed.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive. Konstanz: 239-261.

Derrida, Jacques (1967/1974): Grammatologie. Frankfurt/M.

Groys, Boris (2000): Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München, Wien.

Hoffmann, Stefan (2002): Geschichte des Medienbegriffs. Hamburg. (Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 2002).

Kiening, Christian (2007): "Medialität in mediävistischer Perspektive". Poetica 39.

Kiening, Christian (ed.) (2007): Mediale Gegenwärtigkeit. Zürich.

Lindberg, David C. (1976/1987): Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Frankfurt/M.

Reudenbach, Bruno (1984): Das Taufbecken des Reiner von Huy in Lüttich. Wiesbaden.

Wenzel, Horst (1995): Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München.

Wittgenstein, Ludwig (1921/1984):Logisch-philosophische Abhandlung. In: ders.: Tractatus logico philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchung. Neu durchgesehen von Joachim Schulte. Frankfurt/M.


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