Germanistik in der Schweiz

Online-Zeitschrift der SAGG, Heft 4/2007


Gesprochene Standardsprache im Deutschschweizer Alltag: Ein Projekt (auch) zur Sprachkompetenz in einem diglossischen Umfeld

Helen Christen (Fribourg)



1 Ausgangslage

Dass die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer nicht nur ungern, sondern auch "schlecht" Hochdeutsch sprechen würden, gehört zu den gängigen negativen Stereotypen, wie überhaupt die alltagsweltliche Auseinandersetzung um das Thema Dialekt und Standardsprache gerade in jüngster Zeit vermehrt von kulturpessimistischen Akteuren geprägt wird, die in der besonderen diglossischen Sprachsituation die Ursache vielerlei Übels sehen wollen (zum Verhältnis der DeutschschweizerInnen zur Standardsprache cf. Hägi/Scharloth 2005, Christen 2005).

Vor diesem Hintergrund ist es angezeigt und angemessen, innerhalb des Nationalen Forschungsprogramms 56 "Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz" der Frage nachzugehen, wie in der Deutschschweiz in authentischen Situationen von der Standardsprache Gebrauch gemacht und wie sie materiell realisiert wird. Weil die oben erwähnten (Vor-)Urteile den Sprachgebrauch des gemeinen Mannes, der gemeinen Frau im Blick haben, wäre es kaum angemessen, zu diesem Zweck den situationsinduzierten Standardgebrauch, wie er von routinierten und häufig auch professionellen Sprecherinnen und Sprechern in formellen Situationen realisiert wird, zu untersuchen, einen Standardgebrauch, über den ohnehin schon Studien vorliegen (cf. Hove 2002, Werlen 2000).

Das Projekt "Gesprochene Standardsprache im Deutschschweizer Alltag" setzt sich vornehmlich mit dem so genannt adressateninduzierten Standardgebrauch auseinander,[1] der dann zum Tragen kommt, wenn in Situationen, in denen gemäss den soziopragmatischen Regeln der Deutschschweizer Sprechergemeinschaft der Dialekt als unmarkierte Sprachform vorgesehen ist, in die Standardsprache gewechselt wird, wobei der Auslöser dieses Wechsels im "nicht-einheimischen" Sprachgebrauch des Kommunikationspartners, der Kommunikationspartnerin liegt. Die Konstellationen, in denen es zu einem adressateninduzierten Standardgebrauch kommen kann, sind durch die Zunahme von Migration und Mobilität eher häufiger geworden, was auch die Zahlen der eidgenössischen Volkszählung ausweisen (cf. Werlen 2004). Der adressateninduzierte Standardgebrauch dürfte zu einer Alltagserfahrung von immer mehr Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern werden.


2 Datenerhebung, Korpuskonstitution und Fragestellung

Wer in der Schweiz die Telefonnummer 117 anwählt, wird mit einer meist kantonalen, allenfalls auch städtischen Polizeizentrale verbunden und das Telefongespräch wird automatisch aufgezeichnet und - unterschiedlich lange - archiviert. Diese Aufzeichnungen eignen sich nun in mehrfacher Hinsicht bestens, um adressateninduzierten Standardgebrauch untersuchen zu können. Einerseits handelt es sich bei den Telefongesprächen um eine authentische und nicht für linguistische Datenaufzeichnung inszenierte Alltagssituation, in denen es für Sprecherinnen und Sprecher - hier für das Polizeipersonal - "natürliche" Anlässe gibt, vom unmarkierten Dialekt in die Standardsprache zu wechseln. Andererseits sind die formal und inhaltlich sehr ähnlich strukturierten Telefongespräche ideal, um interindividuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der formalen und pragmatischen Bewältigung dieses Kommunikationsanlasses untersuchen zu können.[2]

Das Korpus konstituiert sich aus etwas über 6'000 Gesprächen verschiedener kantonaler und einiger städtischer Polizeizentralen,[3] die innerhalb einer Aufzeichnungsspanne von 24 Stunden geführt wurden. Es handelt sich dabei meist um sehr kurze Gespräche, bei denen eine anrufende Person einen Schaden- oder Unglücksfall meldet oder von der Polizei eine Auskunft oder Hilfestellung einfordert. Erwartungsgemäss finden über 90% der Gespräche im Dialekt statt, in etwas mehr als vierhundert Gesprächen sind jedoch Wechsel in die Standardsprache festzustellen, die Antworten auf Fragen mit strukturellem oder pragmatischem Fokus versprechen. Einerseits soll in den Blick genommen werden, wie Polizistinnen und Polizisten die Standardsprache in materieller Hinsicht realisieren, andererseits interessiert, an welchen Stellen im Gespräch und zu welchem Zweck es in den Telefongesprächen zu einem Wechsel der Sprachform kommt.[4]


3 Ergebnisse zu strukturlinguistischen Fragestellungen

In Bezug auf die materielle Realisierung interessiert uns besonders der Vergleich mit Ergebnissen aus bisherigen Untersuchungen zur gesprochenen deutschschweizerischen Standardsprache. Aus einschlägigen Arbeiten wie etwa jener von Ingrid Hove (2002) wissen wir, wie junge Sprecherinnen und Sprecher mit hohem Bildungsniveau in hochgradig formellen Situationen, die eigens für die linguistische Datensammlung arrangiert wurden, Standardsprache sprechen. Ebenso liegen Untersuchungen zu Einzelphänomenen vor, bei denen die gesprochene Standardsprache von Berufssprecherinnen und -sprechern in den Deutschschweizer Medien Forschungsgegenstand ist (cf. Werlen 2000).

Die gesprochene Standardsprache in Konstellationen, in denen es nicht um besonders "schönes" und "normgerechtes" Hochdeutsch geht, sondern in denen die simple Verständigung einerseits aber auch die Herstellung eines zwischenmenschlichen Kontaktes andererseits im Vordergrund steht und in denen wenig-routinierte und nicht professionelle Sprecher und Sprecherinnen in diese markierte Sprachform wechseln, ist dagegen weitgehend unerforscht geblieben.

Erste Eindrücke zeigen, dass in formellen und informellen Kontexten viele Gemeinsamkeiten bestehen in Bezug darauf, welche Varianten vorkommen, dass es aber in Bezug auf einige Varianten deutliche quantitative Unterschiede geben könnte.[5] So werden eher dialektorientierte Aussprache-Varianten wie die Affrikata [kx], die statt des normorientierten Plosivs [k] realisiert wird, von den Polizeibeamten wohl etwas häufiger gewählt als bei situationsinduziertem Standardgebrauch in studentischer Population. Stärker an (nord)deutschen Vorbildern orientierte Varianten wie auslautendes [iç] (etwa in sonnig) dürften im vorliegenden Material jedoch seltener vorkommen. Neben beträchtlichen individuellen Unterschieden - zum Beispiel halten einige ich- und ach-Laute tendenziell auseinander, andere nicht - scheinen sich deutschschweizerische Gemeinsamkeiten in der Realisierung von Vor- und Nachsilben abzuzeichnen, wo nur ausnahmsweise die normgerechten Aussprachen zu hören sind. Die Abweichungen von der Bezugsnorm sind hier weit zahlreicher als die Übereinstimmungen, und es darf vermutet werden, dass in diesem Bereich zwar die expliziten orthoepischen Normen verletzt werden, es sich hier aber um eine implizite deutschschweizerische Aussprachekonvention handeln könnte.[6 Als Einflussfaktoren auf die besondere formale Ausprägung der Standardsprache deutschschweizerischen Zuschnitts kommen nicht nur die Dialekte als Interferenzquellen in Frage, sondern es zeichnen sich insbesondere auch Hyperkorrektionen ab. Die Auswertungen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings noch zu wenig weit fortgeschritten, um mit endgültigen Ergebnissen aufwarten zu können.[7]


4 Ergebnisse zu pragmalinguistischen Fragestellungen

Die pragmatischen Fragestellungen erweisen sich als sehr komplex, da weder alle Polizisten und Polizistinnen mit sprachlich "Nicht-Einheimischen" Standardsprache sprechen, noch die einmal gewählte Sprachform in jedem Falle für ein ganzes Gespräch zwingend beibehalten. Allochthone GesprächspartnerInnen sind also zwar eine notwendige aber nicht eine hinreichende Voraussetzung für einen Wechsel in die Standardsprache. Den Fragen danach, welche Faktoren die Varietätenwahl der Polizeibeamten steuern und welche Funktionen den Wechseln der Sprachform innerhalb eines Gesprächs zugeschrieben werden können, muss mit einem gesprächsanalytischen Instrumentarium nachgegangen werden.

Der adressateninduzierte Standardgebrauch wird - definitionsgemäss - nicht durch situative Faktoren ausgelöst, sondern durch Merkmale der adressierten Person, wobei es sich in der Deutschschweiz nicht um soziale Merkmale handelt, sondern um solche der sprachlichen Ausprägung.

Telefongespräche werden als face-to-face-Kommunikation konzeptualisiert und es kommen jene pragmalinguistische Regeln zum Zug, die dort Gültigkeit haben. So ist der Dialekt als unmarkierte Sprachform vorgesehen und so wird auch bei den vorliegenden Telefongesprächen der erste Turn, der für die Selbstidentifikation vorgesehen ist, von den Polizistinnen und Polizisten immer im Dialekt realisiert:

Beispiel <1>: Dialektale Eröffnungssequenz

Unter welchen Bedingungen bleibt das Polizeipersonal beim Dialekt, wann kommt es zu einem Wechsel in die Standardsprache?

Es ist zu bedenken, dass im Deutschschweizer Kontext die Wahl der Standardsprache immer unter besonderen Vorzeichen steht. Abweichungen vom Usus des Dialektsprechens sind ausschliesslich aus Gründen der Verständnissicherung und kommunikativen Effizienz sozial überhaupt möglich, und sie sind dann ein Gebot der Höflichkeit, wenn der Dialekt nicht verstanden wird. Die Wahl der Standardsprache rahmt die Kommunikation aber unweigerlich als "Kommunikation mit Fremden". Letztlich handelt es sich bei der ahl von Standardsprache oder Dialekt um ein heikles Abwägen zwischen zwei Alternativen, die beide mit einem drohenden Imageverlust der Polizisten und Polizistinnen einhergehen (cf. Goffman 1971; 1977): Wird bei dialektunkundigen Allochthonen auf den Dialekt gesetzt, gilt man als respektlos und unhöflich, wählt man die Standardsprache bei Dialektkundigen, kann dies als schroffe Abweisung interpretiert werden. [8] Im Kontakt mit unbekannten Allochthonen gibt es also nicht von vorneherein "die" richtige Wahl der Sprachform.

Die Sprachformenwahl scheint mit fünf Faktorengruppen zusammenzuhängen, die entweder mit Zugehörigkeitssignalen der Anrufenden (als ausschliesslich verbal und paraverbal in Erscheinung tretender Personen) zur Deutschschweizer in group in Zusammenhang stehen (cf. Kap. 4.1. und Kap. 4.2.) oder die Persönlichkeit und die Sprachfertigkeiten der Polizisten betreffen (cf. Kap. 4.3. und Kap. 4.4.) oder - in eher seltenen Fällen - im Diskurs mit dem Kontextualisierungspotential der beiden Sprachformen resp. dessen Nutzung zusammenhängen (cf. Kap. 4.5.). Nachfolgend werden diese Faktorengruppen erläutert.

4.1 Sprachliche Einflussfaktoren

Der Idiolekt der anrufenden Person fungiert zwangsläufig als Zugehörigkeitsindikator. Der oder die Angerufene beurteilt dieses indexikalische Potential und wählt in der Folge eine Enkodierungsstrategie, die den kommunikativen Bedürfnissen der Anrufenden gerecht zu werden verspricht. Die spezifische Ausprägung allochthoner Idiolekte scheint die Polizistinnen und Polizisten in ihrer Wahl der Sprachform unterschiedlich zu beeinflussen - wer bloss über einen fremden Akzent im Dialekt verfügt, ansonsten aber flüssig spricht, wird in der Regel als einheimisch behandelt.[9] Deutschländische und österreichisches Deutsch begünstigt beim Polizeipersonal einen mehr oder weniger durchgehenden Standardgebrauch. Die Polizisten und Polizistinnen scheinen den Grundsatz zu verfolgen, mit den Anrufenden dieselbe Varietät zu sprechen, die diese selber sprechen. Man kann dies als Strategie der Konvergenz betrachten, vo der sich der Polizist, die Polizistin entweder eine grössere Akzeptanz von Seiten der Aufrufenden und/oder eine grössere kommunikative Effizienz versprechen kann (cf. Giles/Coupland/Coupland 1992).

Vorhersagen zur Sprachformenwahl gegenüber L2-Sprechenden sind weniger gut möglich. Gerade wenn die lernersprachliche Varietät in Bezug auf die Sprachform mit keiner muttersprachlichen Varietät konform ist und gleichzeitig Merkmale sowohl der Standardsprache als auch des Dialekts enthält, ist nicht vorhersagbar, für welche Sprachform sich einzelne Polizisten entscheiden. Die Konvergenzstrategie, die die Ähnlichkeit mit dem Gesprächspartner, der Gesprächspartnerin erhöht und bei allochthonen Muttersprachigen angewandt wird, ist bei lernersprachlichen Mischvarietäten kaum umzusetzen. Die "mischenden" L2-Sprechenden kennen die Trennung von Dialekt und Standardsprache nicht oder nicht genau genug, d.h. die strukturelle Demarkationslinie, die die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer zwischen den beiden Sprachformen aufrecht erhalten, entgeht ihnen. Da sich ihr Idiolekt weder als Dialekt noch als Standardsprache klassifizieren lässt, sondern den Rezipientinnen und Rezipienten ambige Signale gibt, haben Deutschschweizer Schwierigkeiten, sich für die eine ode andere Sprachform zu entscheiden: Das sprachliche Sowohl-als-auch der allochthonen Sprechenden verträgt sich nicht mit dem Entweder-Oder der Diglossie, d.h. das Prinzip der Sprachformenwahl, mit Allochthonen so zu sprechen, wie sie sprechen, ist hier nicht anwendbar, weil es nach einer Varietät verlangen würde, die es so nicht gibt.

Das nachfolgende Beispiel illustriert die strukturellen Besonderheiten einer "Mischvarietät":

Beispiel <2>: "Mischvarietät"

[10]

Nicht nur die Uneindeutigkeit der Varietät kann zu einer kommunikativen Verunsicherung führen, sondern der Sprachkompetenz des Gegenübers scheint ganz generell eine Schlüsselstellung bei der Wahl der Sprachform zuzukommen. Geringe Sprachkompetenzen sind die - wiederum nicht hinreichende - Voraussetzung für solche adressatenspezifische Strategien von Seiten des Polizeipersonals, die allgemein als foreigner talk, seltener als Xenolekt bezeichnet werden. Diese äussern sich in graduellen Veränderungen der dialektalen oder standardsprachlichen Basis und werden häufig als (defiziente) Simplifizierungen oder Reduktionen beschrieben (cf. Roche 1982).

Beispiel <3>: foreigner talk auf standardsprachlicher Basis

Beispiel <4>: foreigner talk auf dialektaler Basis

Foreigner talk, das als eine Anpassung an die kommunikativen Bedürfnisse des Adressaten, der Adressatin verstanden werden kann (cf. Zuenger 1992), setzt eine subjektive Bewertung der tatsächlichen oder antizipierten sprachlichen Fertigkeiten der adressierten Person voraus. Da in den untersuchten Telefongesprächen Personen in Kontakt sind, die sich nicht kennen, ist diese subjektive Bewertung als ein dynamisches Konstrukt zu betrachten, das sich im Laufe des (meist sehr kurzen) Gesprächs verfertigt und zu laufenden Strategiewechseln bei der Wahl der angemessenen sprachlichen Mittel führen kann. Das zeigt sich in den Daten darin, dass ein Polizist oder eine Polizistin auf einen bestimmten Stimulus hin nicht einfach in eine stabile xenolektale Varietät wechselt, sondern bei akut werdenden Verständigungsschwierigkeiten scheint das Polizeipersonal eher verschiedene adressatengerechte Möglichkeiten zu erwägen mit dem Ziel, zu jedem Zeitpunkt die kommunikative Effizienz sicherzustellen. In Gesprächen mit sprachlich limitierten Allochthonen findet sich denn auch häufig ein Neben- und Ineinander von dialektalen, standardsprachlichen und xenolektalen Strukturen.

4.2 Lebensweltbezogene Einflussfaktoren

Nicht nur die sprachliche Ausprägung und die Sprachkompetenz lassen Rückschlüsse zu über die Verortung der Anrufenden als Einheimische oder Fremde, sondern die sprachlich vermittelten Informationen selbst können Hinweise zu den Lebensumständen beitragen, die ihrerseits für die Varietätenwahl entscheidend sind. In Beispiel <2> könnte die Information, dass die Anruferin in einem Altersheim in der Schweiz arbeitet, dazu beitragen, dass bei der Anruferin eine gewisse Kenntnis der Deutschschweizer Lebenswelt und des Schweizerdeutschen vorausgesetzt und damit der Dialekt als adäquate Sprachform erwogen werden kann.

Auch der Gebrauch von ortsüblichen Routineformeln, wie sie etwa beim Grüssen verwendet werden, signalisiert - unabhängig von der tatsächlichen Sprachkompetenz - ein gewisses Mass an (sprachlicher) Vertrautheit mit jener Gruppe, in der diese Formel authentisch ist. Da gerade bei den Eingangssequenzen von Telefongesprächen auch Allochthone häufig dialektale Routineformeln verwenden, können diese die - zumindest vorläufige - Wahl des dialektalen 'we' code [11] nahe legen.

Beispiel <5>: Dialektale Begrüssungsformel einer allochthonen Anruferin

4.3 Persönlichkeitsbezogene Einflussfaktoren

Der Gebrauch von Dialekt und Standardsprache in sehr ähnlichen und damit vergleichbaren Telefongesprächen macht offenkundig, dass von individuellen Präferenzen auszugehen ist. Die prinzipielle Kooperationsbereitschaft vorausgesetzt, wechseln einige Polizistinnen und Polizisten eher "spontan" in die Standardsprache, andere tendieren zum Verbleiben im Dialekt. Die besondere Konstellation in den vorliegenden Telefongesprächen - die Anrufenden als Bittstellende, das Polizeipersonal als beauftragte Helferin - erzeugt ein Machtgefälle, bei dem den situativ mächtigeren Polizistinnen und Polizisten ein Ermessensspielraum bleibt, wie sehr sie sich (sprachlich) auf die Anrufenden einlassen wollen. Wer nicht gerne Standardsprache spricht, kann dieser Neigung tendenziell nachgeben, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.

Welche Persönlichkeitsprofile mit welcher Sprachformenwahl korrelieren, muss als Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert bleiben, weil die dafür notwendigen Daten fehlen. Allerdings kann einer allfälligen Korrelation von Aussprache-Eigenheiten mit der Vorliebe für den Dialekt oder die Standardsprache nachgegangen werden.

4.4 Fertigkeitsbezogene Einflussfaktoren

Der diglossisch geregelte Sprachformengebrauch, wie er in der Deutschschweiz praktiziert wird, kann zu unterschiedlichen produktiven Fertigkeiten in der Mündlichkeit führen. Da die Mündlichkeit zu einem überwiegenden Teil im Dialekt abläuft, bestehen für diese Sprachform in der Regel grössere Formulierungsroutinen.[12] Der Wechsel von adressateninduziertem Standardgebrauch zurück in den Dialekt scheint häufig diesen unterschiedlichen Fertigkeiten zugeschrieben werden zu können. Bei spontanen und emotionalen Kommentaren können die Bedürfnisse der Adressaten aus dem Blickfeld geraten, und der Polizist, die Polizistin fällt quasi in die dialektale "Normallage" zurück, im nachfolgenden Beispiel möglicherweise zusätzlich begünstigt durch die Dialekt-/Standard-Isomorphie von Fundbüro.

Beispiel <6>: Fertigkeitsbedingtes code switching in den Dialekt

Auch die feststellbare Präferenz für dialektale Routineformeln kann fertigkeitsbedingt sein: Es handelt sich um die für bestimmte wiederkehrende kommunikative Handlungen automatisierten Formeln, die spontan abgerufen werden. In Beispiel <7> wird nach einer standardsprachlichen Verabschiedung ein Wunsch des Anrufers mit dialektalem gliichfalls erwidert.

Beispiel <7>: Code switching bei Routineformeln

Im Zusammenhang mit der Telefonkommunikation wird vor allem bei den Formeln ich verbinde Sie oder einen Moment bitte von der Standardsprache in den Dialekt gewechselt. Die mangelnde Praxis des Standardsprachesprechens mag dazu führen, dass die standardsprachlichen Entsprechungen für derartige Formeln nicht oder in geringerem Masse als psycholinguistisch feste Grössen mit einem quasi-lexikalischen Status zur Verfügung stehen, sondern aufwändiger aus Einzelelementen zu Syntagmen kombiniert werden müssen (cf. Burger 1998).

4.5 Diskursbezogene Einflussfaktoren

Im Zusammenhang mit der Sprachformenwahl bei beziehungsorientierten Routineformeln, die bei Verabschiedungen und bei Wünschen verwendet werden, muss neben dem oben erwähnten Aspekt der sprachlichen Fertigkeit auch in Erwägung gezogen werden, dass es gerade bei diesen Formeln äusserst störend sein könnte, den distanzierenden 'they' code zu benutzen. Da die Wahl des 'we' code für derartige Ritualia nicht verständigungshindernd ist, unterliegen diese Formeln besonderen Bedingungen. Sie können unter Umständen als Kontextualisierungshinweise dienen und zu Nähe-Signalen werden, welche die störende Distanzierung, die zwangsläufig mit dem standardsprachlichen 'they' code verbunden ist, an "verständigungsirrelevanten" Stellen mildern und die Beziehung zwischen anrufender Person und Polizist oder Polizistin durch den Gebrauch heimischer Ritualia (sprachlich) "normalisieren".

Was den Wechsel vom adressateninduzierten Standardgebrauch zurück in den Dialekt betifft, wie er sich in den bisher untersuchten Telefongesprächen zeigt, so scheinen diese code switchings allerdings nur ausnahmsweise diskursbezogen zu sein - und wie bei den gerade thematisierten Routineformeln z.B. das Nähe-/Distanz-Verhältnis zum Anrufenden zu verändern -, sondern meistens einen Zusammenhang mit Fertigkeiten und Routinen des einzelnen Polizisten, der einzelnen Polizistin zu haben, die einen (wohl wenig bewussten) Wechsel "zurück" in die vertrautere Sprachform praktizieren.


5 Ausblick

Das Projekt "Die gesprochene Standardsprache im Deutschschweizer Alltag" soll insofern einen Beitrag leisten zur Dialektsoziologie der Deutschschweiz, als das Zusammenspiel von Dialekt und Standard in der Mündlichkeit des Berufsalltags exemplarisch dokumentiert wird. Das Projekt kann Erkenntnisse zum kaum erforschten adressateninduzierten Standardgebrauch beitragen und Fakten liefern zur unseligen Diskussion, ob denn die Deutschschweizer und Deutschschweizerinnen nun Standard sprechen oder ob sie ihn vermeiden. Wir möchten herausarbeiten, welche interindividuellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Verwendung der Standardsprache und auf deren materieller Realisierung bestehen. Die Gemeinsamkeiten verstehen wir als Indikatoren für die bestehenden impliziten Sprach- und Sprachgebrauchsnormen.

Wir hoffen, dass das Korpus genug Daten hergibt, um überdies der Frage nachzugehen, ob in der Standardsprache deutschschweizerischer Prägung verschiedene Register existieren, was bisher bestritten worden ist. Gerade wenn der adressateninduzierte Standardgebrauch alltäglicher wird, dürften sich innerhalb der Standardsprache formellere und informellere Register herausbilden.

Als "Nebenprodukt" aus der vorliegenden Untersuchung kann man sich überdies Auskünfte über das Set an Merkmalen oder Merkmalsbündeln versprechen, welches die diglossische Trennung von Hochdeutsch und Dialekt aufrecht erhält. Tatsächlich bestehen für die eingeborenen Sprecherinnen und Sprecher kaum jemals Zweifel darüber, welche Sprachform gerade intendiert ist, mag sich für Aussenstehende Schweizer Hochdeutsch und Schweizer Dialekt auch wie ein Kontinuum ausnehmen. Auf welchen strukturellen Grössen diese Trennung basiert, ist bisher unerforscht.

Insgesamt rechnen wir mit einem Erkenntnisgewinn, der nicht nur die Alltagsdiskussion mit Fakten bereichern kann, sondern von dem auch die Sprachdidaktik im Hinblick auf angemessene Lernziele profitieren könnte.


Anmerkungen

1 Auch der metaphorische Standardgebrauch (cf. Fishman 1975), der als stilistisches Mittel innerhalb dialektalen Sprechens zum Zuge kommt, soll nicht ausser Acht gelassen werden: Einerseits sollen die Funktionen ermittelt werden, die diesen Insertionen (cf. Auer 1999) zukommen, andererseits interessieren deren Aussprachebesonderheiten im Vergleich zum adressateninduzierten Standardgebrauch. [zurück]

2 Das Schweizer Projekt ist verzahnt und abgestimmt mit einem Schwester-Vorhaben am "Forschungsinstitut deutsche Sprache - Deutscher Sprachatlas" an der Philipps-Universität Marburg/Lahn unter der Leitung von Dr. Roland Kehrein und Prof. Jürgen Erich Schmidt. Dort geht es im Rahmen der Kommunikation am Notruftelefon um die Frage, an welcher Stelle des Dialekt-Standardkontinuums sich die Äusserungen der Polizisten positionieren. [zurück]

3 Die folgenden Polizeikommandos haben - unter strengen Auflagen bezüglich des Datenschutzes - Tondokumente zur Verfügung gestellt: Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Basel Stadt, Graubünden, Luzern, Obwalden, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz, Thurgau, Uri, Wallis und Zürich sowie die Städte Chur, Luzern und Winterthur. [zurück]

4 Am Projekt arbeiten als Doktorassistentin Dr. Ingrid Hove, als Doktorandin lic. phil. Manuela Guntern und als Unterassistentinnen Luzia Maissen (bis 30. 9. 2006) und Marina Petkova mit, denen an dieser Stelle nicht nur für die seriöse Datenaufbereitung und -transkription gedankt sei, sondern auch für ihr engagiertes Mitdenken und für viele Anregungen, von denen dieser Text erheblich profitiert hat. [zurück]

5 Als Bezugsgrösse wurde die Aussprachenorm des DUDEN (2005) herangezogen, von der aus übereinstimmende oder abweichende Realisierungen bestimmt werden. Diese kodifizierte Aussprachenorm ist nicht zu verwechseln mit der impliziten Deutschschweizer Konvention der Standardaussprache, die mit Hilfe der vorliegenden Studie gerade erforscht wird. [zurück]

6 Zum Unterschied zwischen (expliziter) Norm und (impliziter) Konvention cf. Hove (2002). [zurück]

7 Präzise Ergebnisse zur materiellen Realisierung der Standardsprache bei fünf Sprechern kann Manuela Guntern (2006) in ihrer Lizentiatsarbeit vorlegen. Dieser Arbeit ist eine differenziert Hypothesenbildung zu verdanken, die zu gezielten Fragestellungen am Gesamtkorpus genutzt werden können. [zurück]

8 Zur Problematik der Sprachformenwahl aus der Sicht von Deutschen, die in der Schweiz leben, cf. Koller (1992). In Kommentaren zur Sprachformenwahl stellt sich heraus, "dass es viele Informanten gar nicht schätzen, wenn hochdeutsch mit ihnen gesprochen wird: Es wirkt distanziert, man fühlt sich 'abgewertet', und man ärgert sich darüber. Ein Informant ist 'regelrecht beleidigt': 'In dem Moment wird mir das dann bewusst, dass ich aus dem Deutschen komme [...].'" (Koller 1992:180). [zurück]

9 Mit "flüssig" ist hier eine Kompetenz gemeint, die gemessen am Europäischen Referenzrahmen dem Niveau C entspricht. [zurück]

10 Die Äusserungen aus dem Korpus werden hier standardnah verschriftlicht und die Turns in eine - die Sprechwirklichkeit verfremdende - Abfolge gebracht. Im Projekt selbst werden die Daten mit Hilfe des Phonetikprogramms "Praat" mit der SAMPA-Umschrift transkribiert. Die Tonspur kann dort mit beliebigen Transkriptions- und Kommentarzeilen verbunden werden, die es einerseits erlauben, für verschiedene Fragestellungen unterschiedliche Annotierungen vorzunehmen, und die andererseits mit dem Programm EXMARaLDA exportiert werden können und dort eine Partiturdarstellung ermöglichen, die beispielsweise nach den Konventionen des "Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems" (GAT) ausgerichtet werden kann. [zurück]

11 Zur Unterscheidung von 'we' code und 'they' code cf. Gumperz (1982). [zurück]

12 Die bestehenden Unterschiede in den sprachproduktiven Fertigkeiten haben Iwar Werlen (1998) zum Begriff "asymmetrische Zweisprachigkeit" animiert. [zurück]


Literaturangaben

Auer, Peter (1999): "From codeswitching via language mixing to fused lects. Toward a dynamic typology of bilingual speech". The International Journal of Bilingualism 3(4): 309-332.

Burger, Harald (1998): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin.

Christen, Helen (2005): "Die Deutschschweizer Diglossie und die Sprachendiskussion". In: Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (ed.)Sprachendiskurs in der Schweiz. Vom Vorzeigefall zum Problemfall. Bern: 85-96.

DUDEN Aussprachewörterbuch (2005). Wörterbuch der deutschen Standardsprache. 6. Aufl. Mannheim etc.

Fishman, Joshua A. (1975): Soziologie der Sprache. München.

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Goffman, Erving (1971): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M.

Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung. Frankfurt a.M.

Gumperz, John J. (1982): Discourse strategies. Cambridge.

Guntern, Mauela (2006): Mundartinterferenzen im gesprochenen Schweizerhochdeutsch. Eine Untersuchung an Gesprächen des Notrufs 117. Unveröff. Lizentiatsarbeit. Universität Freiburg/CH.

Hägi, Sara/Scharloth, Joachim (2005): "Ist Standarddeutsch für Deutschschweizer eine Fremdsprache? Untersuchungen zu einem Topos des sprachreflexiven Diskurses". Linguistik online 24, 3.

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Koller, Werner (1992): Deutsche in der Deutschschweiz. Aarau.

Roche, Jürg (1989): Xenolekte. Struktur und Variation im Deutsch gegenüber Ausländern. Berlin.

Werlen, Iwar (1998): "Mediale Diglossie oder asymmetrische Zweisprachigkeit?" Babylonia 1: 22-35.

Werlen, Iwar (2000): "Variation im gesprochenen Hochdeutsch in der deutschen Schweiz - am Beispiel der Nachrichten von Radio DRS 1 und Radio DRS 3". In: Häcki Buhofer, Annelies (ed.): Vom Umgang mit sprachlicher Variation. Basel/Tübingen: 311-327.

Werlen, Iwar (2004): Zur Sprachsituation der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Diglossie in der Deutschschweiz. Bulletin vals/asla 79: 1-30.

Zuengler, Jane (1992): "Accommodation in Native-Nonnative Interactions. Going Beyond the 'What' to the 'Why' in Second Language Research". In: Giles, Howard/Coupland, Justine/Coupland, Nikolas (ed.): Contexts of accomodation. Developments in applied sociolinguistics. Cambrige: " 223-243.


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