Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG 3/2006


Klassizismus, eine rückwärtsgewandte Moderne? Perspektiven auf die "Weimarer Klassik"

Sabine Schneider (Zürich)



Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren. Ich danke dem Vorstand der SAGG herzlich für seine Einladung. Es ist für mich eine Ehre, vor Ihnen sprechen zu dürfen, besonders da ich erst so kurz der Schweizer, genauer der Zürcher Germanistik angehöre.[1] Das Forschungsgebiet "Klassik und Klassizismus", aus dem ich Ihnen einige Perspektiven vorstellen möchte, beschäftigt mich schon seit einigen Jahren.[2] Es hat aber im Moment besondere Aktualität für mich, weil ich ein Lehrbuch zu diesem Thema vorbereite, das im Metzler Verlag in der Reihe "Lehrbuch Germanistik" erscheinen soll. Diese Reihe hat sich zum Ziel gesetzt, an neuesten Forschungsproblemen orientierte Epochendarstellungen für das vertiefte Studium und zur Prüfungsvorbereitung zu bieten. Bislang liegen Bände zum Barock (von Dirk Niefanger 2000), zur Aufklärung (von Peter-André Alt 2001), zur Romantik (von Detlef Kremer 2003) und zur Avantgarde (von Walther Fähnders 1998) vor. Der Band zur "Klassik" fehlt bislang, die geplante Monographie soll diese Lücke schließen und aus bestimmten, noch darzulegenden Gründen den Doppeltitel "Klassik und Klassizismus" tragen.

Nun gibt es natürlich bereits Lehrbücher zur Klassik, die auch profund über die Literatur der Epoche informieren - so etwa die Studie von Dieter Borchmeyer (1994) über die Weimarer Klassik als "Portrait einer Epoche" - und so bedarf ein weiteres Studienbuch einer Begründung. Es muss neue Akzentuierungen und Perspektiven im Blick auf scheinbar allzu bekannte kanonische Werke und Autoren setzen und die Prämissen einer solchen Umakzentuierung offen legen. Von diesen veränderten Prämissen in der Wahrnehmung der Epoche möchte ich im folgenden sprechen, nicht von Inhalt und Aufbau des Lehrbuchs im engeren Sinn. Die Prämissen, um die es mir geht, gelten der Verortung der Literatur der Zeit in den Kontexten der ästhetischen und kunsttheoretischen Diskussionen im Rahmen gesamteuropäischer Entwicklungen. Sie betreffen den Anschluss der ästhetischen Konzepte an die skeptizistische westeuropäische Aufklärung mit ihrer Neubewertung von Empirie, Sinnlichkeit und Anschauung. Sie plädieren vor allem für eine Rehabilitation des Klassizismus, in dessen programmatischer Auseinandersetzung mit antiken Stil- und Geschmacksmustern insbesondere der bildenden Kunst der sachliche Kern der Epoche der Klassik gesehen wird. Rehabilitierung des Klassizismus insofern, als in dem scheinbar aufs Gestrige der Antike gewendeten normativen Gestus nicht eine konservative Entlastung von Zeitgenossenschaft ausgemacht wird, sondern im Gegenteil eine rückwärtsgewandte Modernisierungsdebatte, die der reflexiven Energie der Frühromantik in nichts nachsteht, vielmehr in diskursiver Konkurrenz zu ihr an denselben, spezifisch modernen Problemen laboriert.

Vertreten wird die These eines doppelten Ursprungs der ästhetischen Moderne in einer komplementären und dialogischen Konstellation von Klassizismus und Romantik in der Umbruchs- und Sattelzeit um 1800 (vgl. Schneider 2002). Diese Diagnose geht von einem seismographischen Modernebegriff der Überblendungen und Überformungen zwischen Altem und Neuem aus. Sie will die schwierige Genese dieser ästhetischen Moderne anhand der Herausforderung der ästhetischen Konzepte durch die grundlegenden wissensgeschichtlichen, erkenntnis- und zeichentheoretischen sowie medialen Modernisierungskrisen der Zeit um 1800 erweisen. Unternommen wird eine Rekonstruktion der bis in die Postmoderne hinein unübertroffenen Subtilität der Überlegungen zur medialen Eigenheit der Künste. Die ästhetische Theoriebildung der Moderne profitiert bis heute von einer medialen Sensibilisierung, wie sie der Klassizismus der Zeit um 1800 in der Auseinandersetzung vor allem mit der bildenden Kunst mit höchster kunstphilosophischer Ambition entwickelt hat.

Intermediale Fragestellungen ergeben sich so zwangsläufig aus der Bilderlust des Klassizismus. Von ihr wird behauptet, so eine weitere Grundannahme, dass sie einer drohenden Abstraktionstendenz und dem Ausfall des ästhetischen Gegenstands in der Moderne mit einer forcierten Kultur der Sichtbarkeit begegnet, die das Auge des Betrachters zur zentralen Instanz erhebt, vor deren Sinnlichkeit sich der prekär gewordene Sinn unmittelbar einsichtig zu präsentieren habe. Der Bedeutung visueller Arrangements, der Wechselwirkung von Literatur und Bildkünsten als kultureller Praxis von den klassizistischen Dekorationen im pompejanischen Stil über die Zeitmode der "Lebenden Bilder" bis zu dem an Bildwirkungen ausgerichteten Inszenierungsstil des Weimarer Theaters, kommt weitaus entscheidendere Bedeutung zu, als es die herkömmliche Hypostasierung und Isolierung der literarischen "Werke" der Weimarer Olympier zeigen konnte (vgl. auch Pfotenhauer 2004; ders. 1991).[3] Dass aus der visuellen Alltagskultur ambitionierte Kunsttheorie entspringt, zeigt die spezifisch für die Weimarer Klassik zentrale Gattung der Kunstliteratur als ein mediales Experimentierfeld für die Literatur im engeren Sinne.[4] Deren auffällige Transgressionslust zu den Bildern - denken Sie an die eingelagerten Bildszenarien in Goethes späten Romanen - kann eine ähnlich raffinierte mediale Reflexivität aufweisen wie die Literatur der zeitgleichen Romantiker.

Gezeichnet werden soll demnach ein spannungsvolles Bild der so genannten Weimarer Klassik, die Robert Musil zu Recht eine Zeit der intellektuellen Unruhe genannt hat.[5] Entgegen dem Klischee des Normativen, Kanonischen und in sich Geschlossenen soll auf die internen Brüche, die intellektuellen Energien und produktiven Aporien hingewiesen werden. Der Neoklassizismus der Weimarer Klassik stellt nicht einfach Normen unter Rückwendung auf antike Vorbilder auf. Seine reflexive Dynamik, seine Emphasen und die Tendenz zur utopistischen Radikalisierung der ästhetischen Konzepte hat vielmehr zu tun mit einem neuen Legitimationszwang. Er muss seine Utopien von einem goldenen Zeitalter der Kunst unter den Prämissen einer verzeitlichten Moderne mit ihren Zeichenkrisen und ihrer Infragestellung einer tradierten Memorialkultur rechtfertigen und neu begründen.

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Ich möchte diese Grundkonstellation einer rückwärtsgewandten Moderne an drei Problemfeldern kurz skizzieren, die ich für zentral halte. Sie betreffen erstens den problematischen Antikenbezug unter den Bedingungen der Moderne, die interne Spannung zwischen Norm und Historizität - oder man könnte es auch allgemeiner formulieren: das Problem des kulturellen Gedächtnisses in der modernen Kunst, die sich emphatisch autonom setzen möchte.

Damit verbunden ist zweitens eine veränderte Auffassung von der Funktion der Kunst und allgemeiner gesprochen des ästhetischen Zeichens, der Rolle etwa, die der Hermeneutik des Kunstrezipienten zugesprochen wird oder auch des Verhältnisses der Künste untereinander, vor allem des Verhältnisses zwischen Sprach- und Bildkünsten. Ich möchte diese Veränderungen unter dem Stichwort "mediale und semiotische Reflexivität" subsumieren.

Die dritte Problemkonstellation schließlich betrifft die Wechselbeziehung der Literatur und Kunsttheorie mit den empirischen Wissenschaften. Denn die vermeintlich so weltenthobenen Modelle schöner Menschengestalt oder idealisierter Lebensmodelle, wie sie beispielsweise die Inthronisierung der antiken Plastik in den Mittelpunkt rückt, sind auf untergründige Weise vernetzt mit den bedrängenden Fragen nach der leiblichen Verfasstheit unserer Menschennatur. Die Kontingenzen des Lebendigen - wie sie etwa die medizinische Anthropologie und die Biologie der Zeit provokativ zum Thema macht - sind in den Normierungen und Ausschlüssen des Klassizismus auf eine prekäre Weise semantisch präsent.

Als prägnantes Beispiel für die erste Problemstellung, (eigentlich aber für alle drei, die aufeinander bezogen sind), eignet sich eine für den Neoklassizismus der Weimarer Klassik folgenreiche und kanonische Textpassage, Winckelmanns melancholisches Schlussbild aus seiner "Geschichte der Kunst des Altertums", hier in der zweiten Fassung von 1776:

Ich bin in der Geschichte der Kunst schon über ihre Gränzen gegangen, und ohngeachtet mir bey Betrachtung des Untergangs derselben fast zu Muthe gewesen ist, wie demjenigen, der in Beschreibung der Geschichte seines Vaterlandes die Zerstörung desselben, die er selbst erlebet hat, berühren müsste, so konnte ich mich dennoch nicht enthalten, dem Schicksale der Werke der Kunst, so weit mein Auge gieng, nachzusehen. So wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hofnung ihn wieder zu sehen, mit bethränten Augen verfolget, und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt. Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur einen Schattenriss von dem Vorwurfe unsrer Wünsche übrig; aber desto grössere Sehnsucht nach dem Verlohrnen erwecket derselbe, und wir betrachten die Copien der Urbilder mit grösserer Aufmerksamkeit, als wie wir in dem völligen Besitze von diesen nicht würden gethan haben. Es geht uns hier vielmals, wie Leuten, die Gespenster kennen wollen, und zu sehen glauben, wo nichts ist (...). (Winckelmann 1776: Schluss)

Eine erstaunliche Reflektiertheit auf den historischen Ort, von dem aus geschrieben wird, zeigt sich in diesem ebenso melancholischen wie poetischen Schwanengesang des Kunsthistorikers auf das Ende der Kunst. Die historische Differenz zu einer in äußerste Ferne gerückten, nur in zufälligen Bruchstücken überlieferten, unverständlich gewordenen Antike wird hier zugleich als hermeneutische Distanz entdeckt. Von Zerstörung und Verlust, von Vereinzelung und Disparatheit ist die Rede, von bloßen Copien verlorener Urbilder, Schattenrissen vor einem verbleibenden Nichts, von einer Antike, die nur noch in Erinnerung, in Nachahmungen und halluzinativer Beschwörung präsent gemacht werden kann. Die Potenzierung der subjektiven Vermittlung - "gleichsam nur einen Schattenriss von dem Vorwurfe unserer Wünsche" - erweist die Kunst der Antike als projektives Sehnsuchtsbild des von ihr geschiedenen Modernen. Die kulturelle Erinnerung oszilliert zur phantasmatischen Halluzination, zur Geisterseherei.

Dieselbe Dialektik von Fragment und phantasmatischer Ergänzung, von Fremdheit und Anverwandlung formuliert Karl Philipp Moritz in einem Aufsatz mit dem Titel "Ueber das Studium der griechischen Altertümer", der 1789 in der klassizistischen Programmzeitschrift der Berliner Akademie der Künste erschien: Das Antike

hat sich gänzlich unserem Blick entzogen; so dass wir es nur noch aus Bruchstücken, welche uns die Geschichte und die auf die Nachwelt gekommenen Werke liefern, zusammengesetzt, vor Augen stellen und unsere Phantasie damit täuschen können. (Moritz 1997: 1047)

An anderer Stelle spricht Moritz von einer Unterredung der Lebenden mit den Schatten der Vorwelt, Totengesprächen in der Erinnerung der Lebenden, wie überhaupt die Rede von der Schattenwelt der Antike - so auch bei Schiller in den "Göttern Griechenlands" - in den Texten der Klassiker eine zentrale Rolle spielt.

Eben jene Ferne und Fremdheit der antiken Werke, so zeigt die methodologische Selbstreflexion Winckelmanns wie Moritzens, ist nicht als Rekonstruktion eines Faktischen und Gegebenen einzuholen. Sie braucht den Eros des Betrachters, dessen liebender Traum die zerstückelten Reste in seiner produktiven Einbildungskraft ergänzt und die toten, unverständlichen Steine zum Reden bringt. Der Mythos von Pygmalion, des Bildhauers, der aus Liebe zu seinem eigenen Werk den Stein zum Leben erweckt, ist das Paradigma, anhand dessen sich die Kunsttheorie der Zeit über dieses hermeneutische Problem verständigt.[6]

Ein zerstückelter Körper aus Stein und dessen imaginative Ergänzung steht daher auch im Mittelpunkt von Winckelmanns Bildhermeneutik, in der literarisch ambitionierten Beschreibung einer der Ikonen des Klassizismus, des so genannten Torso vom Belvedere. In einer der frühesten Fassungen im Florentiner Manuskript lautet diese Ekphrasis wie folgt:

Torso. Bey dem ersten Anblick dieses Stückes wird man nichts anders gewahr als einen fast ungeformten Klumpen Stein, aber so bald das Auge die Ruhe angenommen, und sich fixiret auf dieses Stück, so verliehret das Gedächtniß den ersten Anblick des Steins und scheinet er weichliche zarte Materie zu sehen [werden]. Ob dieses Stück schon ohne Kopf, Arme noch Beine ist, so bildet die Vollkommenheit des übrigen in unseren Gedanken schönere Glieder, als wir jemahls gesehen haben. Die Gottheit und Vollkommenheit erscheinet so wohl durch die Form als Zärtlichkeit der mächtigen Muskeln des vergötterten Helden. Derjenige so einen Begrif von der Großheit der Griechischen Künstler hat, wird in seinen Gedanken leicht die verlohrnen Theile ersetzen. Denn da man im gantzen Körper keine Nothdürftige theile als Härte der Knochen, angespannte Sehnen Nerven oder Adern siehet, so stellt man sich leicht vor, wie in dem Haupt die Gottheit des Vaters gewesen sey, [auf?] den üb(er)bliebenen Schultern ersiehet man die Stärcke deßen der nach der Poet(isch)en Beschr(eibung) den Himmelsglob(us) getragen. (Pfotenhauer/Bernauer/Miller 1995: 168f.)

Klassizismus ist hier der phantasmatische Triumph über die Kontingenz des Verlorenen und Zerstückten. Dort wo es fast aussichtslos scheint, aus einer Leerstelle, einem ungeformten Steinklumpen erschafft die Phantasie unter eklektizistischer Erinnerung an mythische Geschichten die Apotheose des Halbgotts. Die kulturelle Erinnerung wird buchstäblich produktiv, die vom Sehen und Erinnern mobilisierte Einbildungskraft hat halluzinatorische Kraft. In fast allen Statuenbeschreibungen steht am Anfang diese Irritation des Sehens, die Sinnverweigerung, der Widerstand, der im hermeneutischen Aufschwung überwunden werden muss.

Es ist der Eros des Betrachters, es sind die Bilder der Einbildungskraft, die angesichts der Transitorik und des Entzugs der immer schon verschwundenen Antike allein Gegenwart hervorbringen und das Erträumte präsentisch setzen können. So beschreibt es Moritz in seinem Buch über die römischen Altertümer, einem der literarischen Ergebnisse seiner Italienreise, als Konsequenz einer radikalen Verzeitlichung:

Auf die Weise muss das Gebildete in dem Geiste des Menschen, dessen Tage dahin eilen, wieder abgebildet sich verjüngen, und wir müssen in der Flucht der Zeit von den Bildern, die vorüberrauschen, gleichsam nur die Umrisse stehlen. (Moritz 1791: 6; vgl. hierzu Tausch 2000b)

Der Leitbegriff für diese präsentierende Anverwandlung ist der der "Verjüngung", er bezeichnet eine Kippfigur von Distanzierung und Präsentierung, von Verlust und Wiederanverwandlung, von Erinnerung und Erfindung. Ihn verwenden sowohl der Klassizist Moritz als auch der Romantiker Friedrich Schlegel. "Das Alte ist nicht alt geworden, so lange es noch in jeder neu aufkeimenden Einbildungskraft sich wieder verjüngen muss", schreibt Moritz (1997: 1047), damit den Anteil der produktiven Einbildungskraft der Modernen bezeichnend. Auch Friedrich Schlegel stellt sein Projekt einer Neuen Mythologie unter das Signum der eigenen Zeit als eines Zeitalters der "Verjüngung" (Schlegel 1800: 98).

Voraussetzung ist eine Ästhetisierung und Literarisierung des Mythos, die mit Winckelmanns Rückbezug der antiken Statuen auf die Homerischen Geschichten begonnen hat und von Moritz in seiner "Götterlehre" radikalisiert wurde. Dass der griechische Mythos, seiner kultischen Funktionen entkleidet, allein als "Sprache der Phantasie" betrachtet wurde, welche den Menschen aller Zeiten von dem Grundgesetz von Bildung und Zerstörung erzählt, macht ihn für eine solche Anverwandlung allererst tauglich. Es ist kein antiquarisches, sondern ein literarisches und kunstphilosophisches Interesse an der Antike, das sie als entsemantisierten Fluchtpunkt einer regulativen Idee der Moderne, als künstliches Paradies einer goldenen Zeit braucht. Die Dialektik von Archaismus und Modernebewusstsein, von kulturellem Vergessen und halluzinativem Erinnern ist für den Klassizismus konstitutiv. In seiner transzendentalphilosophisch geprägten Spätzeit, etwa bei Friedrich Schiller und Karl Ludwig Fernow wird diese Dialektik als das komplizierte Verhältnis des Sentimentalischen zum Naiven beschrieben, das über den Umweg der Reflexion den Kopfgeburten der Moderne aufgibt, "auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären" (wie es der berühmte Geburtstagsbrief Schillers an Goethe vom 23. August 1794 formuliert). Die Antike, so schreibt Schiller in seiner Poetologie der Moderne aus dem Geist der Antike - ich spreche von der Abhandlung "Über naive und sentimentalische Dichtung" - "ist ein Effekt der poetisirenden Einbildungskraft" (Schiller 1962: 427).

Die hermeneutische Freiheit des Betrachters, die Rolle der pygmaliontischen Phantasie in der Kunstbetrachtung ist ein Gewinn an Reflexion und Literarisierung. Die Autonomie des Ästhetischen gegenüber tradierten etwa religiösen Sinngehalten, kultischen Zusammenhängen oder generell kultureller Verankerungen wird in der Kunsttheorie emphatisch und beinah trotzig als moderne Errungenschaft verkündet. Sie ist aber auch das Komplement eines gesellschaftlichen Funktionsverlusts der Kunst, der eine tiefgreifende Revolutionierung des Verhältnisses von Auftraggeber, Künstler und Rezipient zur Folge hat. Die Autonomieästhetik der Klassik erfindet einen emphatischen Kunstbegriff genau zu dem historischen Zeitpunkt, als den Künsten ihre sozialen Grundlagen entzogen werden, während die Koordinaten ihres einstigen Selbstverständnisses wie die Nachahmung der Natur mit den Mitteln einer tradierten Bildsprache bereits in sich zerfallen sind.

Über die konkreten Konsequenzen jener Autonomisierung denkt der vielleicht scharfsinnigste Theoretiker der Weimarer Kunstfreunde nach, der spätere Bibliothekar der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek Karl Ludwig Fernow, der in Rom Zeuge der napoleonischen Kunstplünderungen war und über sie in Wielands "Teutschem Merkur" in Weimar berichtete. "Die freigewordene Kunst, der Stütze aber auch zugleich des Zwanges der Religion enthoben, mus hinfort auf sich selbst ruhen." (Fernow 1876: 163; vgl. hierzu Tausch 2000a; Schneider 2000a.) Ausgeliefert an die Gesetze des Marktes ist die Emphase einer Autonomie der Kunst, die keinen kulturellen Sinnzumutungen religiöser oder hierarchischer Art mehr zu gehorchen brauche, die "in sich selbst vollendet" zu sein hat, wie Moritz es formuliert, und von nichts zu sprechen braucht, "was außer ihr ist", eben auch eine heroische Geste im Mangel.

Folge dieses historischen Umbruchs, der den modernen Ausstellungskünstler vom vormodernen Auftragskünstler trennt, ist ein Verlust der Verständlichkeit einer kulturell verankerten und tradierten Bildsprache. Auch diese von der aktuellen Kunstgeschichte - ich denke dabei an den Kunsthistoriker Werner Busch - so genannte "Krise der Ikonographie" im ausgehenden 18. Jahrhundert, gehört zum Problemkreis von kulturellem Vergessen und Erinnern (Busch 1993). Die klassizistische Diskussion um die Berechtigung der Allegorie, wie sie Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe und Moritz führen, ist ebenso der Versuch der reflexiven Aufarbeitung dieser Krisenerfahrung, wie das so dogmatisch wirkende Projekt der Weimarer Preisausschreiben für bildende Künstler oder die Diskussion um den Symbolbegriff (vgl. Osterkamp 1994; Böttcher/Tausch 1998). In all diesen theoretischen und kunstpolitischen Bemühungen, die um das Anliegen eines "natürlichen Zeichens" zentriert sind, die eine Kunstsprache etablieren wollen, welche ohne kulturelles Vorwissen, ohne gelehrte Kommentare aus sich selbst verständlich und das heißt im unmittelbaren Anschauen einsichtig zu sein hätte, einen vor Augen liegenden Sinn zu präsentieren hätte, steckt bei aller Emphase auch eine Verlegenheit. Sie haben den Verlust eines kulturellen Memoriaraums zu verwalten, einer drohenden Unverständlichkeit der Kunst nach dem Ende der Ikonographie und der Literarisierung von Mythos und Religion zu begegnen.

Ihnen stellt sich das Problem des ästhetischen Gegenstands in der autonomen Kunst - aber damit bin ich bereits in meinem zweiten Problemkreis, der vom ersten kaum zu trennen ist. "Woran wir Modernen alle leiden: an der Wahl des Gegenstands", schreibt Goethe am 30.8.1797 im Umkreis seiner Beiträge für die Zeitschrift "Propyläen" an Schiller:

Diese Materie, die wir bisher so oft, und zuletzt wieder bei Gelegenheit der Abhandlung über den Laokoon besprochen haben, erscheint mir immer in ihrer höhern Wichtigkeit. Wann werden wir armen Künstler dieser letzten Zeiten uns zu diesem Hauptbegriff erheben können. (Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe 1977: 453f.)

Am Horizont der Kunstbetrachtung erscheint die Drohung einer spezifisch modernen Entgegenständlichung der Kunst. Nicht zufällig gelten die programmatischen Beiträge Goethes in der Zeitschrift "Propyläen" in den Jahren 1798-1800 diesem Problem des Gegenstandes. Wie auch die berüchtigten Weimarer Preisausschreiben versuchen sie unter Rückgriff auf einen säkularisierten Mythos, der den nackten Menschen ins Zentrum stellt, der Kunst zu Gegenständen zu verhelfen, die aus sich selbst, ohne kulturelles Vorwissen, verständlich sein sollten. In diesen Kontext gehört auch die Pathologisierung der selbstschöpferischen Einbildungskraft des Künstlers, die Warnung vor ihrer "zügellosen Willkür" und "Phantasterei", vor dem "wilden Spiel der Imagination", um den Schiller der ästhetischen Schriften zu zitieren (Schiller 1962: 485). Auch sie bezeichnet ein strukturimmanentes Problem der modernen Kunst, die ihren Gegenstand zu verlieren droht. Es ist eben auch eine Überlastung, dass dem Künstler als autonomem "Genie" aufgetragen wird, die entschwundene Plastizität der Antike, oder entsemantisiert des Ideals, durch seine "Bildungskraft" (so nennt es Moritz), seine "plastisch dichtende Phantasie" (so nennt es Karl Ludwig Fernow) aus sich heraus zu erschaffen. - Zumal das Ideal des Klassizismus - ich zitiere Fernow - selbst "jene gänzliche Abstraktion und Erhebung über das Wirkliche" leisten soll und also an der Abstraktionstendenz der Moderne partizipiert (Fernow, Bemerkung eines Freundes, in: Pfotenhauer/Sprengel 1995: 476). Es ließe sich etwa an die abstrahierenden Umrisszeichnungen John Flaxmans denken, deren antikisierender Archaismus zu äußerster Stilisierung und letztlich zu Ornamentalisierung führt - was in der Diskussion zwischen Goethe und August Wilhelm Schlegel über "Flaxman, den Abgott aller Dilettanten" sehr wohl bemerkt worden ist (Goethe, Der Sammler und die Seinigen, in: Pfotenhauer/Sprengel 1995: 231, 265-267; Über die Flaxmannischen Werke, in: Pfotenhauer/Sprengel 1995: 268; vgl. Oesterle 1999).

Nicht nur in der ambitionierten Kunstphilosophie im engeren Sinne, also in den ästhetischen Haupttexten der Klassik wie in Karl Philipp Moritzens italienischer Abhandlung "Über die bildende Nachahmung des Schönen" von 1788, werden Veränderungen und Irritationen über den Status des ästhetischen Zeichens, über Funktion und Inhalte der Kunst ausgetragen. Auch an scheinbaren Nebenschauplätzen, in der Auseinandersetzung mit der für den Klassizismus so wichtigen Dekorationskunst geschieht dies. Hatte Moritz in seiner kunstphilosophischen Hauptschrift zentrale Paradigmen hergebrachter Kunstauffassung unterminiert, indem er den Fokus von der Nachahmung zur Produktion, von einer Ästhetik des geschlossenen Werks zu der einer unabschließbaren Produktivkraft des Künstlers verschoben hat, so führt er diese Theorie der "Bildungskraft" des Künstlers dann in seiner Theorie der Ornamente aus. "Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente", so lautet der Titel der wenig bekannten Schrift, die Moritz als Professor für Ästhetik und Altertumskunde an der Berliner Akademie der Künste im Jahr 1793 veröffentlichte. Was in der Kunstphilosophie metaphysisch neuplatonisch begründet wird, erhält hier eine anthropologische Rechtfertigung. Ich zitiere aus der Einleitung:

Was ist es anders, als der innere Trieb nach Vollkommenheit, der sich auch hier offenbart, der demjenigen, was an sich keinen Schluss, keine Grenzen hat, eine Art von Vollendung zu geben sucht, wodurch es sich zu einem Ganzen bildet. (Pfotenhauer/Sprengel 1995: 385)

"Isolieren", Form setzen aus einer nicht mehr als Gestalt wahrnehmbaren Natur, es wird der künstlerischen Produktivkraft überantwortet, die sich an allen Gestalten unabhängig von Inhalten zeigen kann. Die Dringlichkeit der Aufgabe des formsetzenden Isolierens, des Sonderns aus der Masse, und ihre Deklarierung zum Anthropologicum sui generis wertet die Form als solche in einer Weise auf, welche die tradierten Normen mimetischer Ästhetik und ihrer idealen Gegenstandsordnung hinfällig werden lässt. Die ungegenständlichen Gebilde ornamentaler Wandmalereien, die pompejanischen Arabesken und Grotesken etwa, erfüllen diese Gestaltforderung in letzter Konsequenz ebenso wie ein Apoll von Belvedere, für Winckelmann noch das höchste Ideal der Kunst als Darstellung vergöttlichter Menschengestalt.

Die mit äußerster Hitzigkeit geführte Debatte um die Arabeske, die mit den spektakulären Ausgrabungen der kampanischen Städte Herculaneum und Pompeji die Kunstliteratur des Klassizismus in Aufregung versetzte, zeigt die Empfindlichkeiten im Umgang mit diesen veränderten Konzeptionen des ästhetischen Zeichens. Die Arabeske wird zu einem theoretischen Grenzgänger des Klassizismus; mit ihrem chimärischen Zwitterwesen, ihrem ludistischen und selbstbezüglichen Status gefährdete sie das Ordnungsprojekt des Klassizismus und seine Orientierung an einer hierarchischen Gegenstandsordnung (vgl. Schneider 1996; Schneider 2000b; Pfotenhauer 1996). Die Arabesken dürften die höhere, die gegenständliche Kunst, nicht verdrängen, mahnt Goethe in seiner Stellungnahme zur Debatte, einem Aufsatz "Von Arabesken" in Wielands Teutschem Merkur (Goethe 1985: 83-87).

Eine Autonomisierung der formalen Bildmittel, eine Aufwertung der ludistischen Einbildungskraft, eine Loslösung von mimetischen Bezügen, kurz eine Tendenz zur Abstraktion wird in der Debatte um die Arabeske verhandelt, die weit mehr als nur eine untergeordnete Dekorationsform darstellt. Es geht vielmehr ums Ganze, um einen veränderten Kunstbegriff. Es ist kein Zufall, sondern eine Konsequenz aus diesen zeichentheoretischen Sensibilisierungen in der klassizistischen Diskussion um die Arabeske, dass Kant in der "Kritik der Urteilskraft" im § 16 der Analytik des Schönen ausgerechnet die Arabeske, die "Zeichnungen à la grecque" zum Paradigma der freien und damit reinen Schönheit erklärt, weil sie außer ihrer sinnlichen Präsenz keinen Begriff, keinen Gegenstand mehr zu repräsentieren habe (Kant 1908: 230). Ein Faktum übrigens, das Schiller in den "Kallias"-Briefen äußerst befremdet hat, "dass also die Arabeske oder was ihr ähnlich sei, schöner sei als die höchste Schönheit des Menschen" (Schiller 1992: 176). Die Romantiker, allen voran Friedrich Schlegel im "Gespräch über die Poesie", haben von dieser Debatte profitiert. Sie konnten die zur Vorhut der modernen Autonomieästhetik avancierte Arabeske aus der bildenden Kunst auf die Literaturtheorie übertragen und sie in ihrer Logik einer "künstlich geordneten Verwirrung" zum Inbegriff der romantischen Poesie erheben (Oesterle 1985). In ähnlicher Weise hat der ästhetische Historismus des 19. Jahrhunderts die von den Klassizisten mit Sorge gesehene Konjunktion von Abstraktion und freigelassener Einbildungskraft in der Arabeske weitergeführt - eine Beunruhigung, die bis zur Ornamentkritik eines Adolf Loos und der funktionalistischen klassischen Moderne offenbar nicht zu beheben war (vgl. Busch 1988).

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An drei zentralen Problemfeldern wollte ich Ihnen meine These der Klassik als rückwärtsgewandter Moderne skizzieren: An der Frage des kulturellen Gedächtnisses, an der Reflexion auf Zeichenkrisen und drittens an der untergründigen Verbindung der ästhetischen Konzepte mit den empirischen Wissenschaften. Letzteres bin ich Ihnen bislang noch schuldig geblieben und kann es angesichts der fortgeschrittenen Zeit nur in einigen, eher thesenartig vorzutragenden Perspektiven andeuten - die vielleicht in der Diskussion noch einmal ausführlicher thematisiert werden könnten:

Bekanntlich ist eines der ästhetischen Hauptanliegen des Klassizismus eine Ästhetisierung des Todes. Lessings Schrift "Wie die Alten den Tod gebildet" mit dem darin ausgesprochenen Verbot, körperlichen Verfall und die Hässlichkeit des Todes etwa nach barocker Manier in der Kunst darzustellen, hat dies als Norm für den guten Geschmack der Klassizisten in programmatischer Weise formuliert. Dennoch bleibt dieses Problem als affektives Potential in der Kunsttheorie der Weimarer Klassik präsent, mehr als es das Ideal zeitloser Jugendlichkeit vermuten ließe, das Winckelmann in seiner kanonischen Beschreibung des "Apollo von Belvedere" inthronisiert hat - und in merkwürdigem Kontrast zur emphatischen Forderung nach Ganzheit und Geschlossenheit der Form. Auf eine beinah obsessive Weise wird es zwischen den Zeilen, in den ästhetischen Empfindlichkeiten und Ausschlüssen verhandelt (diese Perspektive verfolge ich in meiner Dissertation: Schneider 1998). Winckelmanns Verbot, Adern und Sehnen in der Plastik zu bilden, gehört dazu, denn sie erinnern an die körperliche Hinfälligkeit. Und auch die Dialektik zwischen der phantasmatischen Ergänzung zerstückelter Körper wie in der eingangs zitierten Beschreibung des "Torso vom Belvedere" macht ein solches Spannungsfeld auf. Nicht zufällig gelten die ambitioniertesten Kunstbeschreibungen der Ikonen der Klassik prominenten Darstellungen sterbender oder versehrter Körper: Laokoon, Niobe mit ihren Kindern, der borghesische Fechter, der Torso vom Belvedere. Gerade an ihnen hat sich die Erhebung über die Kontingenz des körperlichen Verfalls zu erweisen.

Man sieht, der für die Klassik konstitutive Statuendiskurs ist eine Schnittstelle zwischen Kunstbegriffen und Körperkonzepten. Mit dem so emphatisch beschworenen "Umriss", dem Kontur der antiken Freiplastik wird auch die Einheit und Prägnanz von Menschenbildern verhandelt. Wenn Johann Gottfried Herder von dem "so ungemein Sicheren und Vesten bei einer Bildsäule" spricht, dann bezeichnet er die identitätsstiftende Funktion der Kunst (Herder 1987: 517). Im Zentrum dieser Einheit aber steht die physische Sinnlichkeit des Menschen. Johann Caspar Lavater schreibt als Winckelmann-Schüler, wenn er in seinen "Physiognomischen Fragmenten" bemerkt: "So wie sich der Mensch uns darstellt, ist er ein in die Sinne fallendes, ein physisches Wesen. So wie er nur durch die Sinne erkennt, kann er nur durch die Sinne erkannt werden." (Lavater 1775: 33).

Dass diese Sinnlichkeit des Menschen auch die Zerbrechlichkeit, die Hinfälligkeit der Körpernatur mitzudenken zwingt, dass sie ein gefährliches Assoziationspotential birgt, ist die Kehrseite solcher Aufwertung der Sinnlichkeit. Die ängstliche Betonung der Festigkeit des Marmors und der Geschlossenheit des Konturs denkt auf der abgewandten Rückseite immer auch die "Zerstückbarkeit" des Körpers mit. "Zerstückbarkeit" ist ein Begriff, den Karl Philipp Moritz gerade angesichts der programmatisch in sich selbst vollendeten Kunst wie ein notwendiges Komplement zur Geschlossenheit der Gestalt ausphantasiert. Moritz ist hier radikaler und expliziter als andere Klassizisten. In seiner Beschreibung der Laokoon-Gruppe etwa werden der körperliche Schmerz und das krude Faktum der Zerstörung lebendiger Körper nicht wie bei Winckelmann gemildert durch ein ethisches Konzept wie das der erhabenen Seele. Der auf den Anblick der Zerstörung zurückgeworfene Betrachter hat vielmehr den "Jammer der ganzen leidenden Menschheit" wie in einem Brennspiegel zusammen gedrängt unmittelbar sinnlich vor Augen. Wenn der leidende Körper dennoch auch bei Moritz der Kontingenz eines beliebigen physischen Schicksals entrückt wird, dann nicht in Form einer Idee wie der erhabenen Menschentums. Es ist vielmehr die vollkommene Form der Darstellung an sich, die das Leid zur Totalität einer "allgewaltigen Zerstörung" steigert. Freilich stellt sich dabei die Assoziation eines gleichsam mitleidlosen Kreises der Kunst ein, der das menschliche Leiden ein- und jegliche Empathie am dargestellten Geschehen ausschließt (Moritz 1997: 711f.; vgl. Schneider 1999).

Johann Gottfried Herder möchte diese Assoziation des Sterblichen aus der Kunst verbannt sehen, in seiner klassizistischen Hauptschrift "Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume" stellt er die rhetorische Frage "Muss die Kunst uns an den Tod erinnern", nur um sie energisch zu verneinen und Normen zu ihrem Ausschluss aufzustellen (Herder 1987: 94). Er möchte in den Statuen "lebendige Gestalten" als seinesgleichen umarmen, "Lebenswind musste die Formen beleben", damit die tastende Hand nicht durch die Assoziation von Totenstarre erschreckt wird. Die edle Form sei eine "Menschliche, die beseelt ist; nicht Tod, nah dem Tode, Geist, Gerippe" und daher "so wenig als möglich zerbrochen", "ganze Fülle eines Körpers" und nicht "Abtrennungen, losgelöste Stücke des Körpers, die seine Zerstörung weisssagen" (Herder 1880: 31; ders. 1987: 515, 488, 114, 90). Letztere verursachen dem Betrachter nicht einfach ästhetisches Missvergnügen, sondern bedrohen seine eigene Integrität. "Gleichsam eine innere Zerstörung meiner Natur" fühlt Herder von solchen Brechungen ausgehen (Herder 1987: 119).

Ähnliches ließe sich für Schiller etwa anhand seines Konzepts der Anmut zeigen. Auch dort gibt das Schreckbild einer sich in ihre Säfte verflüchtigenden körperlichen Gestalt die Folie ab für die Erhebung zur schönen Seele. Herder, Moritz und Schiller sind nicht nur Klassizisten, sie sind auch gute Kenner der empirischen Wissenschaft der Anthropologie der Zeit, Schiller als philosophischer Arzt, Herder mit seiner Sinnesphysiologie des Tastsinns und Moritz als empirischer Psychologe und Mitbegründer der Erfahrungsseelenkunde.[7] Die ästhetischen Utopien der Klassik, so kann man es resümieren, sind weniger weltfremd als es den ersten Anschein hat und sie besagen gerade in den Irritationen, von denen sie auch sprechen, etwas über eine historische Problemsituation, in der der Traum von einer ewigen Jugend der Kunst und die radikale Thematisierung der Zeitlichkeit der Menschennatur in den empirischen Wissenschaften hart aufeinander treffen.

So übernimmt der ästhetische Zentralbegriff der Klassik, nämlich der der "Bildung" die semantischen Bestimmungen des Bildungsbegriffs der Biologie in ihrer modernen Form der Epigenesis. Die aber hatte die göttlichen Urbilder aus der Natur verbannt und in ihren materialistischen Konsequenzen eine spontane kontingente Produktivkraft der Materie denkbar gemacht. Der "Bildung" ist somit, so phantasiert es Moritz in seiner kunstphilosophischen Hauptschrift aus, die Zerstörung aller Gestalten durch die "alles zerstörende Zeit" immer schon eingeschrieben. Die Hoffnung der Klassik auf eine Erlösung aus der Kontingenz des Lebens durch die dauernden Formen der Kunst wird damit selbstkritisch und selbstreflexiv aufgehoben. Die Natur sieht lächelnd dem Spiel des Künstlers zu, so Moritz,

und lässt ihn eine Weile seine kleine Schöpfung anstaunen - dann verschwemmt sie, was er schuf, in dem Strome der Zeiten, und lässt wieder neue Werke der Kunst unter fremden Himmelsstrichen emporsteigen, um sie auch dereinst wieder in Vergessenheit zu begraben. (Moritz 1786: 6)

Vielleicht ist das der melancholische oder resignative Grundzug, den Walter Benjamin der Klassik unterstellt hat. Dass diese Melancholie in die Rede über das in sich selbst vollendete Schöne eingegangen ist, zeigt, dass die Klassik selbst ihr Anderes zu denken imstande ist. Ihr komplexes Gestaltmodell mit all seinen Ausschlüssen, Irritationen und Digressionen verortet es an einer historischen Übergangsstelle zwischen einer metaphysisch geordneten Welt und den intellektuellen Zumutungen und existenziellen Überlastungen der Moderne.

 

Anmerkungen

1 Der Vortragsstil dieser Projektskizze wurde bewusst beibehalten, daher wurden die Mündlichkeitssignale nicht getilgt. [zurück]

2 Es ging ursprünglich aus von meiner Dissertation über die Kunsttheorie Karl Philipp Moritzens und Friedrich Schillers, setzte sich fort über meine Mitarbeit am Band zur Kunstliteratur der Klassik im Deutschen Klassiker Verlag sowie über eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen, die im engen Dialog mit dem Giessener Graduiertenkolleg "Klassizismus und Romantik", dem Arbeitskreis "Berliner Klassik" an der Berliner Akademie der Wissenschaften, dem Goethe-Nationalmuseum, der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar und dem SFB "Ereignis Weimar-Jena" in Jena entstanden sind. [zurück]

3 Jahrelangen gemeinsamen Forschungen verdanke ich für dieses Thema viel. [zurück]

4 Das haben insbesondere die beiden Bände zur Kunstliteratur des Klassizismus in der "Bibliothek der Kunstliteratur" im Deutschen Klassiker Verlag erwiesen: Pfotenhauer/Bernauer/Miller (1995); Pfotenhauer/Sprengel (1995). [zurück]

5 "Diese Zeit, die wir als unsere Klassik anzusehen gewöhnt sind, was sie in gewissem Sinn auch ist, war in anderem Sinn eine Zeit der Versuche, der Unruhe, der Hoffnungen, der grossen Beteuerungen, der Betriebsamkeit" (Musil 2000: 1231). [zurück]

6 Eingeführt in die Forschungsdebatte hat dieses Paradigma Oskar Bätschmann (1992); vgl. ferner Helmut Pfotenhauer über "Pygmalion. Heinses Hermeneutik lebendiger Bilder" (Pfotenhauer 1991: 27-56); Mülder-Bach (1991). [zurück]

7 Diesem Zusammenhang widmet sich die Forschungsrichtung der Anthropologie, wobei weniger die Klassik als die Aufklärung im Fokus stand, forschungsgeschichtlich wichtig war der DFG-Symposionsband: Schings (1994). [zurück]

 

Literaturangaben

Quellen

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 Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG  3/2006