Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG 3/2006


Rezension zu

Pechota Vuilleumier, Cornelia (2005):
"O Vater, lass uns ziehn!" Literarische Vater-Töchter um 1900 - Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé.
Hildesheim/Zürich/New York.

Susanne Balmer (Zürich/Bern)



Das Dilemma weiblicher Entwicklung im 19. Jahrhundert lässt sich nach Kontje Todd (1993: 235) folgendermassen auf den Punkt bringen: Sozialisation bedeutet für Frauen zwangsläufig eine Form von Selbstverleugnung, während der Versuch einer weiblichen Selbstverwirklichung fast automatisch zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führt. So lässt die biologisch verstandene Festschreibung der Frau auf Ehe, häusliche Tätigkeit und Mutterschaft, wie sie um 1800 einsetzt und durch die Verbreitung der Evolutionstheorie noch bestätigt wird, kaum einen alternativen weiblichen, bürgerlichen Lebensentwurf zu, der nicht von der Gesellschaft als widernatürlich abgelehnt wird.

Zahlreiche Autorinnen setzen sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts anhand fiktiver weiblicher Entwicklungsgeschichten mit dieser Emanzipationsproblematik metadiskursiv auseinander. Häufig beziehen die Werke eine gesellschaftskritische Position, indem sie die fatalen Folgen weiblicher Sozialisation verdeutlichen, ohne jedoch mögliche Auswege aus dem Dilemma zu formulieren. So endet eine Vielzahl der Romane wie zum Beispiel "Sibilla Dalmar" von Hedwig Dohm (1896) mit dem Tod der weiblichen Hauptfigur oder wie "Aus guter Familie" von Gabriele Reuter (1896) mit dem Wahnsinn der Protagonistin.

Die Dissertation von Cornelia Pechota Vuilleumier widmet sich drei Entwicklungsgeschichten, die alle um die Jahrhundertwende entstanden sind. Sie zeigt auf, wie sich deren Protagonistinnen, wenn auch in unterschiedlichem Grad, einen Lebensweg erkämpfen, der ihnen ein gewisses Mass an Persönlichkeitsentfaltung ermöglicht, ohne dass sie dafür aus der Gesellschaft gedrängt würden.

In "Gunhild Kersten" von Gabriele Reuter (1894) entscheidet sich die Hauptfigur Gunhild für eine bescheidene Künstlerkarriere, obwohl sie ein Versprechen an das Kunstverbot des toten Vaters bindet. Dazu setzt sie einerseits Ersatzeltern ein, die sie auf ihrem Weg unterstützen, und nimmt andererseits eine Umdeutung des leiblichen Vaters vor, indem sie seine künstlerische Seite betont und dieser nacheifert.

Auch der Figur Christa im Roman "Christa Ruland" von Hedwig Dohm (1902) gelingt es schrittweise einen eigenen Weg einzuschlagen. Sie trennt sich von ihrem adligen Ehemann, bricht mit ihrem Vater und geht Beziehungen mit einem sozialistischen Journalisten und einem Priester ein, ohne ihren Platz in der Gesellschaft dabei zu verlieren. Auch mit den letzteren beiden bricht sie, als sie merkt, dass auch diese sie auf ihre "weibliche Bestimmung" festlegen wollen. Sie beschliesst am Ende vorerst allein zu bleiben und einen pädagogischen Beruf zu ergreifen.

Im Roman "Ruth" von Lou Andreas-Salomé (1895), der nur einen begrenzten Lebensausschnitt fokussiert und als einziger der drei Romane als autobiografisch gilt, wird die Beziehung der jungen verwaisten Protagonistin zu ihrem Lehrer, einem verheirateten Pastor, geschildert, der ihr auf seinem Sommersitz Privatunterricht erteilt. Ruth gelingt es schliesslich sich vom "inzestuösen Machtanspruch" des Mentors zu befreien und, ausgerüstet mit den dazu nötigen "geistigen Waffen" ins Leben hinaus zu treten.

Die Arbeit mit dem nach Goethe zitierten Titel "O Vater, lass uns ziehn!" setzt den Fokus der Untersuchung auf die Vater-Beziehungen der weiblichen Hauptfiguren und misst ihnen für deren Emanzipation eine zentrale Bedeutung bei. Dabei erfasst Pechota Vuilleumier den Begriff der Vaterschaft auf mehreren Ebenen. Neben dem Erzeuger-Vater, der vor allem in "Gunhild Kersten" und in "Christa Ruland" eine wichtige Rolle spielt, werden auch so genannte Ersatzväter wie die Mentor-Figur des Erik Matthieux in "Ruth" dazugezählt. Vor allem in "Gunhild Kersten" und "Christa Ruland" kommt darüber hinaus auch geistigen Vätern, namentlich den Philosophen Friedrich Nietzsche und Max Stirner, eine wichtige Bedeutung im Entwicklungsprozess der Protagonistinnen zu.

Zu Recht betont Pechota Vuilleumier den Double-Bind, den all diese Vater-Beziehungen mit sich bringen, indem die "Väter" einerseits durch ihre traditionellen Rollenerwartungen eine eigenständige Entwicklung ihrer Töchter behindern, den Töchtern aber andererseits eine Identifikation im Sinne einer Nachkommenschaft ermöglichen. Wie in der Arbeit gezeigt wird, kommt es in allen drei Werken zu einer Überwindung der väterlichen Vorbilder zu Gunsten der Entwicklung einer eigenen weiblichen Persönlichkeit.

Im Einzeln kann den Ausführungen der Autorin allerdings nicht immer zugestimmt werden. So deutet diese zwar Gotthold Rulands manipulativen Umgang mit seiner Tochter Christa an, relativiert aber dessen Auswirkung auf die Lebensgestaltung der Tochter, indem deren spätere Abwendung vom Vater nicht als Konsequenz dieser Beziehungsstruktur, sondern als Symptom Christas vorübergehend individualistischer Grundhaltung à la Stirner gedeutet wird, also als Effekt eines neuen Abhängigkeitsverhältnis. Die Bewunderung Christas für Nietzsche und Stirner wird von Pechota Vuilleumier in ihrer Ambivalenz wenig betont. Zwar wird in der Dissertation darauf verwiesen, dass sich Christa am Ende des Romans vom einseitigen Individualismus abwendet, jedoch wird die sarkastische Schärfe, deren Christa und ihre Freundinnen sich im Umgang mit den geistigen Vätern bedienen, nicht deutlich genug aufgezeigt. Schon am Anfang des Romans wird im Kreis der jungen Frauen davon gesprochen, "dass Grössenwahn sich so ziemlich mit der allseitig gebilligten Lebenslüge decke, die vor Ibsen schon Nietzsche als eine Art Lebenselexir entdeckt habe" (Dohm 1902: 96). Christa setzt sich teils ironisch, teils kritisch, auf alle Fälle stets reflektiert und nie naiv bewundernd mit den beiden Philosophen auseinander. Dasselbe gilt auch für Hedwig Dohm und viele andere Denkerinnen der ersten Frauenbewegung.

Spannend an der Konzeption der Dissertaion ist die Engführung der weiblichen Sozialisationsproblematik mit den Schwierigkeiten der jüdischen Akkulturation. Damit wird auf eine Koppelung dieser zwei Bereiche hingewiesen, wie sie um die Jahrhundertwende nicht unüblich war: Ähnlich der zunehmenden Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit wurde auch die der Juden als eine Bedrohung empfunden und sowohl Frauen als auch Juden wurden kulturell als das jeweils "Andere" konstruiert. Pechota Vuilleumier versucht über diese bekannten diskursiven Analogien hinaus in den drei Werken "reale Affinitäten und Solidaritäten zwischen beiden Gruppen" herauszuarbeiten, indem sie in ihnen "jüdische Protagonisten oder Themenkreise" auszumacht, in denen sich die Heldinnen in ihrem Sozialisationsdilemma spiegeln. Den "onomastischen Strategien", derer sie sich zu diesem Zweck häufig bedient, wird jedoch über das ganze Buch hinweg zu viel Raum gegeben, gemessen am daraus gezogenen Erkenntnisgewinn.

Das Gleiche gilt für die häufigen autobiografischen Rückbindungen der Werke, welche sich einerseits im Umgang mit Texten weiblicher Autorinnen generell und auch in der Dissertation im Speziellen als wenig originell erweisen, wenn beispielsweise in allen drei Werken nach realen Vorbildern für die Romanfiguren gesucht wird.

Allgemein wird die zwar sehr reichhaltige Untersuchung dem komplexen Erkenntnisinteresse der Autorin nicht immer gerecht, was unter anderem daran liegen mag, dass die drei Werke weitgehend unabhängig von einander untersucht werden und auf vergleichende Kapitel verzichtet wird. Die Arbeit leistet jedoch auf alle Fälle einen wichtigen Beitrag zur Rezeption von deutschsprachigen Schriftstellerinnen um die Jahrhundertwende und deren Auseinandersetzung mit der weiblichen Sozialisationsproblematik.

 

Literaturangaben

Primärliteratur

Andreas-Salomé, Lou (1895): Ruth. Erzählung. Stuttgart.

Dohm, Hedwig (1896): Sibilla Dalmar. Berlin.

Dohm, Hedwig (1902): Christa Ruland. Berlin.

Reuter, Gabriele (1894): Gunhild Kersten. Stuttgart.

Reuter, Gabriele (1896): Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Berlin.

Sekundärliteratur

Todd, Kontje (1993): "Socialization and Alienation in the Female Bildungsroman". In: Holub, Robert C./ Wilson, Daniel W. (eds.): Impure Reason - Dialectic of Enlightenment in Germany. Detroit: 221-241.


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